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An die­ser Stel­le ist es nötig, etwas zur sozio­lo­gi­schen Sicht des mensch­li­chen Seins zu sagen. Kri­mi­na­li­tät wird zum Bei­spiel als eine Fol­ge der Armut gese­hen. Doch dies erklärt nicht, war­um die Mehr­heit nicht kri­mi­nell wird. Dar­aus wie­der­um kann man aber nicht schluß­fol­gern, Armut hät­te kei­nen Zusam­men­hang mit Kri­mi­na­li­tät. Man kommt nicht umhin, eini­ges zu dif­fe­ren­zie­ren. Wenn ein Hung­ri­ger stiehlt, han­delt er nicht aus Hab­gier; und wenn er dabei, ohne es zu wol­len, jeman­den umbringt, ist es kein vor­sätz­li­cher Mord. Ande­rer­seits gehö­ren die Rei­chen und Mäch­ti­gen zu jenen in unse­rer Gesell­schaft, die Krie­ge anzet­teln, die Lebens­grund­la­ge ande­rer Men­schen zer­stö­ren, Natur und Men­schen ver­gif­ten. Sie aber sit­zen nicht in den Gefäng­nis­sen. Kri­mi­nal­sta­tis­ti­ken ver­zeich­nen nur des­halb mehr Arme als Rei­che, weil sol­che Sta­tis­ti­ken der Ideo­lo­gie der Rei­chen und Mäch­ti­gen unter­lie­gen und weil sie nicht alle For­men von Destruk­ti­vi­tät aufführen.
(Arno Gruen – Der Wahn­sinn der Normalität)

Sinn­kri­se. Ich komm in die Bera­tung, sagt sto­ckend ein Kli­ent, weil ich so komisch trau­rig bin die gan­ze Zeit, weil alles mich so sinn­los dünkt. – (Berich­ti­gung: Dies sagt nicht ein Kli­ent, sehr vie­le sagen es; ich wäh­le stell­ver­tre­tend einen und nenn ihn Zemp und refe­rie­re lückenhaft.)
Wuchs gedrun­gen. Flei­schi­ge Gestalt. Glied­ma­ßen kurz. Gang eher schlep­pend. Gute, blaue Augen. Tre­vi­ra-Hosen, bügel­frei, hand­ge­strick­te Wes­te. Zemp ist ein Volks­schul­leh­rer, Mit­te vier­zig, Fami­lie, im Mili­tär Major.
Weiß Ihre Frau um Ihren Zustand?
Neinnein.
Sie sagen zwei­mal nein, warum?
Ich will es ihr nicht sagen, es wür­de sie belasten.
Spürt sie’s nicht ohnehin?
Ich neh­me mich zusammen.
Sie haben also das Gefühl, es wür­de Ihre Frau belas­ten, wenn Sie ihr anver­trau­ten, wie’s Ihnen wirk­lich geht?
Ja, schon. Ich … ich bin sonst eben nicht so schwach. Ich muß dage­gen kämp­fen, und Sie als Fach­mann, dach­te ich, Sie ken­nen doch die Waffen.
Sie has­sen Ihre düs­te­re Gemütsverfassung?
Sehr.
Und das Gefühl, daß alles sinn­los ist, scheint Ihnen ungehörig?
Es ist ein Virus, wie ein Virus. Ein Überfall.
Ich kür­ze ab: Natür­lich besteht die ers­te Pha­se der »Behand­lung« dar­in, dem Zemp zu zei­gen, daß man auch als Major und Ehe­mann und Vater ein biß­chen schwach sein darf; daß zwei­tens Pro­ble­me sei­ner Art rein waf­fen­tech­nisch nicht zu lösen sind; daß drit­tens ein Sym­ptom so wenig feind­lich wie ein Leucht­turm ist, der auf Gefah­ren­zo­nen hin­weist. – Und in der nächs­ten Pha­se, die ich »poli­tisch« im wei­ten Wort­sinn nen­nen möch­te, geht es dann dar­um, zu erwä­gen, ob Sinn­lo­sig­keits­ge­füh­le und Betrüb­nis nicht allen­falls ver­stan­den wer­den könn­ten als durch­aus ange­mes­se­ne, Intakt­heits­sehn­sucht offen­ba­ren­de Reak­ti­ons­ge­bär­den gegen eine Wirk­lich­keit, die über wei­te Stre­cken so beschaf­fen ist, daß einer, der sich in ihr nicht trau­rig fühlt, sein Trau­er­de­fi­zit betrau­ern müßte.
(Mar­kus Wer­ner – Froschnacht)

Der Mensch muß Moral haben, der Staat kennt kei­ne Moral. Er mor­det, wenn er es für gut befin­det, er stiehlt, wenn er es für gut befin­det; er raubt die Kin­der von den Müt­tern, wenn er es für gut befin­det; er zer­bricht die Ehen, wenn er es für gut befin­det. Er tut, was er will. Für ihn gibt es kei­nen Gott im Him­mel, an den zu glau­ben er den Men­schen bei Leib- und Lebens­stra­fe zwingt, für ihn gibt es kei­ne Gebo­te Got­tes, die er den Kin­dern mit dem Knüp­pel ein­bleu­en läßt. Er macht sich sei­ne Gebo­te selbst, denn er ist der All­mäch­ti­ge und der All­wis­sen­de und der All­ge­gen­wär­ti­ge. Er macht sich die Gebo­te selbst, und wenn sie ihm eine Stun­de dar­auf nicht mehr zusa­gen, über­tritt er sie selbst. Kei­nen Rich­ter hat er über sich, der ihn zur Rechen­schaft zieht, und wenn der Mensch anfängt, miß­trau­isch zu wer­den, dann fuch­telt er ihm mit der Flag­ge Rot-Weiß-Blau-Hur­ra-Hur­ra-Hur­ra vor den Augen her­um, daß der Mensch ganz duse­lig wird, und er brüllt ihm ins Ohr: »Haus und Herd – Weib und Kind« und bläst ihm in die Nasen­lö­cher den Rauch: Blick auf dei­ne ruhm­rei­che Ver­gan­gen­heit. Und dann plap­pern die Men­schen alles nach, weil der All­mäch­ti­ge sie in aus­dau­ern­der Arbeit zu Maschi­nen und Auto­ma­ten her­un­ter­ge­würgt hat, die ihre Arme, Bei­ne, Augen, Lip­pen, Her­zen und Gehirn­zel­len genau­so bewe­gen, wie es der all­mäch­ti­ge Göt­ze Staat haben will. Das hat nicht ein­mal der all­mäch­ti­ge Gott zuwe­ge gebracht, und der konn­te doch auch etwas. Aber die­sem Unge­heu­er gegen­über ist er nur ein armer Stüm­per. Sei­ne Men­schen han­del­ten ganz selb­stän­dig, sobald sie erst ein­mal ihre Arme und Bei­ne bewe­gen konn­ten. Sie lie­fen ihm davon, ach­te­ten sei­ne Gebo­te nicht, sün­dig­ten ver­gnügt wie toll und setz­ten ihn end­lich ab. Bei dem neu­en all­mäch­ti­gen Gott haben sie es schwe­rer, weil er noch zu jung ist und weil sie noch nicht wagen, ihm auf die Füße zu tre­ten und den Apfel vom Bau­me zu reißen.
(B. Tra­ven – Das Totenschiff)

Als die ers­ten Signa­le aus dem All emp­fan­gen wur­den, konn­te noch nie­mand wis­sen, was auf uns zukom­men wür­de. Die Streit­kräf­te der größ­ten Natio­nen berei­te­ten erwar­tungs­ge­mäß recht grim­mi­ge Ver­tei­di­gungs­maß­nah­men vor und waren über­aus besorgt, wie sie das immer sind, wenn etwas Unvor­her­ge­se­he­nes geschieht, weil es Auf­ga­be des Mili­tärs ist, besorgt und mög­lichst grim­mig zu sein. Die Mas­sen­me­di­en über­schlu­gen sich mit ihrer Bericht­erstat­tung, sie wett­ei­fer­ten gera­de­zu um die wil­des­ten Gerüch­te und schür­ten glo­ba­le Panik, wie sie es immer tun, weil sie das für ihre gött­li­che Beru­fung hal­ten. Sek­ten und Welt­un­ter­gangs­spin­ner sahen mit einem nicht zu ver­heh­len­den Stolz das end­gül­ti­ge Ende her­auf­zie­hen, das sie dem Rest der Bevöl­ke­rung schon seit Ewig­kei­ten gepre­digt hat­ten, ohne jemals von irgend­je­man­dem wirk­lich ernst genom­men wor­den zu sein. Poli­ti­ker aller Län­der began­nen damit, trotz ihrer bis­he­ri­gen Kon­flikt­li­ni­en auf ein­mal offen mit­ein­an­der zu reden, weil sie nun einen neu­en, gemein­sa­men Feind iden­ti­fi­zie­ren konn­ten, der ihnen womög­lich die Macht über ihr Revier strei­tig zu machen droh­te. Zusam­men­fas­send muss man sagen, dass sich die Erde in ein kopf­lo­ses Toll­haus ver­wan­del­te, doch genau genom­men kann die­se Bezeich­nung dem gan­zen Vor­gang nicht völ­lig gerecht wer­den, weil man der Wahr­heit zulie­be ergän­zen müss­te, dass sie ein noch viel grö­ße­res Toll­haus wur­de, als sie es nor­ma­ler­wei­se sowie­so schon war.
Unse­re Ver­su­che, noch wäh­rend ihres Anflugs auf die Erde irgend­ei­ne Art von Kon­takt mit ihnen her­zu­stel­len, schlu­gen alle­samt fehl, also blieb uns nichts wei­ter übrig, als ner­vös ihre Ankunft abzu­war­ten und das Bes­te zu hof­fen. Je nach Men­schen­we­sen, das man dazu befragt hät­te, wäre die Vor­stel­lung dar­über, was die­ses Bes­te denn über­haupt sei, sicher­lich sehr unter­schied­lich aus­ge­fal­len. Die einen erhoff­ten sich von den Besu­chern aus dem All einen gewal­ti­gen kul­tu­rel­len und tech­no­lo­gi­schen Fort­schritt, ande­re sahen es als Gele­gen­heit, ja als Her­aus­for­de­rung an, end­lich ein paar Wesen abseits der gewohn­ten Fau­na abzu­knal­len, was nach so vie­len Jah­ren voll umfang­rei­cher Pra­xis­er­fah­rung lang­sam lang­wei­lig zu wer­den droh­te, und wie­der ande­re mal­ten sich neue sexu­el­le Erfah­run­gen aus. Ob sie wohl auch auf die Erde gekom­men wären, wenn sie die­se Gedan­ken alle­samt gekannt hätten?
Ande­rer­seits gibt es Idio­ten wirk­lich über­all, also sicher auch unter extra­ter­res­tri­schen Lebens­for­men, wes­we­gen mensch­li­che Idio­tie für unse­re Besu­cher kei­ne all­zu gro­ße Über­ra­schung gewe­sen sein dürf­te. Ob einer ein Idi­ot ist, hat dabei jedoch nichts damit zu tun, wie intel­li­gent er ist oder eben nicht, denn oft genug stel­len sich gera­de die Intel­li­gen­tes­ten als die größ­ten Idio­ten her­aus, weil sie es eigent­lich bes­ser wis­sen müss­ten. Wenn es eines gibt, das jede Kul­tur im Uni­ver­sum ver­bin­det, dann ist es mit Sicher­heit die Exis­tenz von Idio­ten, und man müss­te die Evo­lu­ti­on wirk­lich ein­mal fra­gen, was sie sich dabei eigent­lich gedacht hat. Wahr­schein­lich gar nichts. Die Evo­lu­ti­on ist auch ein Idi­ot. Gott habe den Men­schen nach sei­nem eige­nen Bil­de erschaf­fen, heißt es dage­gen in man­cher Reli­gi­on, doch wenn es unter den Men­schen so vie­le Idio­ten gibt, was hie­ße das dann im Umkehr­schluss für Gott? Er kann sich glück­lich schät­zen, dass es ihn nicht gibt.
Sie lan­de­ten jeden­falls in der Nähe von She­n­yang, einer Stadt im Nord­os­ten Chi­nas, ohne dass unse­rer­seits beson­de­re Begrü­ßungs­maß­nah­men hät­ten vor­be­rei­tet wer­den kön­nen, weil uns voll­kom­men unbe­kannt war, wo sie Fuß auf die­sen Pla­ne­ten set­zen wür­den. Bis heu­te wis­sen wir nicht, wes­halb sie aus­ge­rech­net dort gelan­det sind. Ver­mut­lich war die­ser Platz so gut wie jeder ande­re, aber all die ver­schmäh­ten Staa­ten waren sich nicht zu fein, sofort die böses­te Gerüch­te kur­sie­ren zu las­sen, Chi­na habe schon Kon­takt zu unse­ren Besu­chern gehabt und ste­cke mit ihnen unter einer Decke, um die gesam­te Mensch­heit end­lich zu ver­skla­ven. Gewähl­te Staats­chefs zeig­ten sich belei­digt wie ein klei­nes Kind, das empört fest­stel­len muss, dass es von der Kin­der­gärt­ne­rin nicht aus­rei­chend beach­tet wird, wobei aus­rei­chend mit exklu­siv zu über­set­zen ist. Wer hat­te sie eigent­lich gewählt? Mit Sicher­heit Idioten.
Als sie lan­de­ten, geschah alles so, wie es immer geschieht, und war dar­um irgend­wie rich­tig lang­wei­lig. Das Mili­tär fuhr schwe­res Geschütz auf, um den uner­war­te­ten Besu­chern ohne jede Ver­zö­ge­rung unmiss­ver­ständ­lich die Stär­ke der Erd­be­völ­ke­rung zu demons­trie­ren, wäh­rend sich die Staats­män­ner gegen­sei­tig bei dem Ver­such über­trumpf­ten, das eige­ne Land als kul­tu­rell und tech­no­lo­gisch füh­rend her­aus­zu­stel­len, was beson­ders pein­lich aus­sah für jene, deren größ­te kul­tu­rel­le Leis­tung es bis dahin gewe­sen war, im Inter­net bestimm­te eri­gier­te Kör­per­tei­le zu prä­sen­tie­ren. Die Außer­ir­di­schen beein­druck­te weder das eine noch das ande­re. Mir schien es, als sei­en sie den Wir­bel um ihre Ankunft gewohnt, als sähen sie über all die­sen Tru­bel gleich­gül­tig, viel­leicht auch amü­siert hinweg.
Ihr Raum­schiff erschien uns auf den ers­ten Blick ziem­lich unspek­ta­ku­lär und war weder beson­ders impo­sant noch auf irgend­ei­ne Art mys­te­ri­ös, im Ver­gleich mit den Fan­ta­sie­ge­bil­den unzäh­li­ger Sci­ence-Fic­tion-Autoren kam es mir ganz und gar öde vor.
Die Kom­mu­ni­ka­ti­on mit uns war für unse­re neu­ge­won­ne­nen Gäs­te kein Pro­blem, auch wenn sie uns nie ver­ra­ten haben, wie sie die­se Kennt­nis­se eigent­lich erlangt hat­ten. Viel­leicht hat­ten sie unse­re Radio- und Fern­seh­über­tra­gun­gen emp­fan­gen, bevor sie auf unse­ren Pla­ne­ten kamen. Eine intel­li­gen­te Lebens­form, die mensch­li­che Radio- und Fern­seh­über­tra­gun­gen emp­fängt und dann unse­rem Pla­ne­ten trotz­dem noch einen Besuch abstat­ten möch­te, ist ent­we­der extrem tole­rant und offen­her­zig oder ziem­lich idio­tisch. Die Mensch­heit mach­te sich, wohl zu ihrer eige­nen Ent­las­tung, dar­über aller­dings gar kei­ne Gedan­ken oder wenn doch, dann nahm sie zumin­dest ers­te­res an.
Die Außer­ir­di­schen inter­es­sier­ten sich sehr für die Geschich­te der domi­nan­ten Spe­zi­es auf die­sem Pla­ne­ten und wie es der Zufall ergab, waren wir das. Wir waren sogar so domi­nant, dass vie­le ande­re Lebens­for­men in einem mehr als devo­ten Ges­tus das Fort­set­zen der eige­nen Spe­zi­es mehr oder weni­ger frei­wil­lig auf­ga­ben, um uns noch domi­nan­ter wer­den zu las­sen. Rück­bli­ckend muss man sagen, dass wir ihnen dafür wenigs­tens mal eine Gruß­kar­te hät­ten schrei­ben kön­nen, doch wir Men­schen sind schon seit Beginn unse­rer gro­ßen Erfolgs­ge­schich­te sehr gut dar­in gewe­sen, mora­li­sche Grund­la­gen dafür zu erfin­den, wenn die­je­ni­gen Lebe­we­sen, die wir gut fin­den, jene Lebe­we­sen töten, die wir nicht so gut fin­den. Uns selbst fan­den wir schon immer ver­dammt gut. Unse­re Besu­cher jeden­falls baten uns um den Zugriff auf unse­re Archi­ve, auf Tech­no­lo­gie und auf das Know-how, das die Mensch­heit im Lau­fe ihrer Ent­wick­lung ange­sam­melt hat­te. Sie sag­ten uns, dass sie für genau ein Jahr unse­rer Zeit­rech­nung auf der Erde blei­ben wür­den, um ihre Expe­di­ti­on, wie sie es nann­ten, durch­zu­füh­ren und uns danach wie­der zu verlassen.
Das Mili­tär zeig­te sich zunächst skep­tisch, weil Mili­tär grund­sätz­lich jedem fried­li­chen Han­deln skep­tisch gegen­über­steht, aber nach­dem auch den aggres­sivs­ten Köp­fen klar­ge­wor­den war, dass wir tech­no­lo­gisch hoff­nungs­los zurück­la­gen und eine mili­tä­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zung nie wür­den gewin­nen kön­nen, wur­de der voll­um­fäng­li­chen Koope­ra­ti­on schließ­lich zugestimmt.
Im Gegen­zug for­der­ten die Staa­ten der Erde von den Außer­ir­di­schen umfang­rei­che Ent­wick­lungs­hil­fe, die unse­rer Intel­li­genz und Stel­lung wür­dig sei. Sie haben es nicht so aus­ge­drückt, aber es wur­de klar, dass sie es genau so mein­ten. Die mäch­ti­gen Staats­män­ner sag­ten, sie wür­den es als Zei­chen der Koope­ra­ti­on und der gegen­sei­ti­gen Fried­fer­tig­keit betrach­ten, wenn uns die Außer­ir­di­schen mit ihrem gewal­ti­gen Wis­sens­vor­sprung unter die Arme grei­fen wür­den, doch unter all dem diplo­ma­ti­schen Gefa­sel lag die Dro­hung der nuklea­ren Zer­stö­rung, zur Not eben inklu­si­ve des Risi­kos der eige­nen Ver­nich­tung, soll­ten die Außer­ir­di­schen ihr Wis­sen nicht frei­wil­lig mit uns tei­len wollen.
Zwölf Mona­te lang weil­ten die Außer­ir­di­schen anschlie­ßend auf der Erde, betrie­ben For­schung, stell­ten Fra­gen, leb­ten unter uns und unter­such­ten unse­re Lebens­wei­se. Sie lasen unse­re Geschichts­bü­cher, erhiel­ten Zugriff auf staat­li­che Archi­ve, stu­dier­ten unse­ren All­tag und die Art, wie wir uns gesell­schaft­lich zu orga­ni­sie­ren gewohnt waren. Sie durch­wühl­ten unse­ren Müll, was uns ein wenig beun­ru­hig­te, weil wir sehr viel davon her­stell­ten und oft genug gera­de sol­che Din­ge in den Müll schmis­sen, von denen wir nicht ein­mal woll­ten, dass unser Nach­bar dar­über Bescheid wüss­te. Man­che unse­rer Medi­en mach­ten sich über sie lus­tig und bezeich­ne­ten sie als inter­ga­lak­ti­sche Pen­ner, weil sie so weit gereist waren, nur um dann unse­ren Müll zu durch­su­chen. In dem zu wüh­len, was ande­re müh­sam gekauft und dann weg­ge­schmis­sen hat­ten, das fan­den wir nicht in Ord­nung, weder im Fall ter­res­tri­scher noch im Fall außer­ter­res­tri­scher Müll­die­be, aber bei letz­te­ren mach­ten wir eine Aus­nah­me, weil sie uns im Gegen­satz zum Obdach­lo­sen von der Stra­ße nun ein­mal lei­der über­le­gen waren.
Sie durch­wühl­ten jedoch nicht nur unse­ren Müll und im meta­pho­ri­schen Sinn unse­re Geschich­te, son­dern beob­ach­te­ten auch sehr genau, wie wir Men­schen mit­ein­an­der umgin­gen und wie wir mit allem ande­ren haus­hiel­ten, was die­ser Pla­net uns zur Ver­fü­gung stell­te. Es gab vie­le ver­schie­de­ne Arten, die mensch­li­che Geschich­te zu betrach­ten, doch unterm Strich lief alles dar­auf hin­aus, dass ein­fach lau­ter Men­schen lau­ter ande­re Men­schen umge­bracht hat­ten oder, wenn gera­de kei­ne ande­ren Men­schen zur Ver­fü­gung stan­den, dann eben die nächst­bes­ten Lebe­we­sen. Wir haben das schon immer für ein Zei­chen von Intel­li­genz und Zivi­li­sa­ti­on gehal­ten, also gab es nichts, wofür wir uns hät­ten schä­men müssen.
Nach­dem sie die­se zwölf Mona­te mit For­schung und Beob­ach­tung ver­bracht hat­ten, erklär­ten sie uns, sie wür­den die Erde nun wie­der ver­las­sen, genau wie sie es uns ange­kün­digt hat­ten. Die Staats­män­ner aller Natio­nen zeig­ten sich ange­sichts die­ser Nach­richt sehr trau­rig, waren inner­lich aber froh, die­se über­le­ge­nen Kon­kur­ren­ten end­lich wie­der los­zu­wer­den und ver­säum­ten es auch nicht, mit Nach­druck auf die ver­spro­che­ne Unter­stüt­zung der Außer­ir­di­schen hin­zu­wei­sen. Wenn Staa­ten auf etwas hin­wei­sen, dann machen sie das oft sehr sub­til, bei­spiels­wei­se mit Pan­zern, Bom­ben und gro­ßen Kriegs­schif­fen. Auf die­sen Punkt also ähn­lich sub­til ange­spro­chen, ver­si­cher­ten uns die Besu­cher ohne auch nur einen Moment des Zögerns, sie wür­den selbst­ver­ständ­lich zu ihrem Ver­spre­chen ste­hen. Sie baten uns ledig­lich um etwas mehr Geduld und um die Mög­lich­keit, zum Abschied vor der Voll­ver­samm­lung der Ver­ein­ten Natio­nen spre­chen zu dürfen.
Es ließ sich kaum ver­heh­len, dass man ihnen alles Mög­li­che zuge­stan­den hät­te, wenn sie nur end­lich wie­der abge­flo­gen und unse­re eta­blier­ten Macht­struk­tu­ren in Ruhe gelas­sen hät­ten, also wur­de ihnen ihre Rede gewährt. Eine Rede vor der Voll­ver­samm­lung der Ver­ein­ten Natio­nen hat­te in der Regel auf die Welt­po­li­tik unge­fähr so viel Ein­fluss wie das betrun­ken von sich gege­be­ne Stamm­tisch­ge­schwätz in einer belie­bi­gen Knei­pe, nur war die Wahr­schein­lich­keit um eini­ges grö­ßer, an einem Knei­pen­tisch einen Ehren­mann vor­zu­fin­den. Mit gro­ßem Getö­se fei­er­te man den Tag des Abschieds, der wie ein Tag der Befrei­ung behan­delt wur­de, obwohl sie uns gegen­über nie als Besat­zer auf­ge­tre­ten waren. Reih­um hiel­ten die Regie­rungs­chefs der größ­ten Län­der ihre Anspra­chen, in denen sie sich vor Lob und auf­ge­setz­ter Dank­bar­keit gera­de­zu über­schlu­gen. Als letz­tes trat ein Ver­tre­ter der Besu­cher nach vor­ne ans Rednerpult.
Die Mensch­heit wur­de wegen zahl­rei­cher Ver­bre­chen gegen das Leben zum Aus­ster­ben ver­ur­teilt. Wäre das empör­te Gere­de im Saal nicht so laut gewe­sen, man hät­te das glo­ba­le Unter­kie­fer­her­un­ter­klap­pen tat­säch­lich hören kön­ne. Die Schwe­re des Ver­bre­chens und das dar­aus her­vor­ge­hen­de schar­fe Urteil, so erklär­ten sie uns, wur­den deut­lich bei Betrach­tung der geschicht­li­chen Ent­wick­lung unse­rer Spe­zi­es. Anstatt aus Ver­feh­lun­gen zu ler­nen, und an Ver­feh­lun­gen zeig­te sich die mensch­li­che Geschich­te reich, waren über Gene­ra­tio­nen hin­weg die Mög­lich­kei­ten ver­fei­nert wor­den, den eige­nen Erobe­rungs­feld­zug gegen den Pla­ne­ten und letzt­lich das gesam­te Uni­ver­sum zu opti­mie­ren, offen­sicht­lich ohne jedes Gefühl der Reue, ohne Skru­pel und ohne Rück­sicht auf mensch­li­ches oder nicht­mensch­li­ches Leben. Um eine Gefahr für ande­re Pla­ne­ten und deren Lebens­for­men abzu­wen­den, habe man sich dar­auf geei­nigt, prä­ven­tiv ein­zu­grei­fen. Wie um die­sen Ankla­ge­punkt sofort zu bestä­ti­gen, droh­ten eini­ge Staa­ten mit der ato­ma­ren Ant­wort auf die­ses in ihren Augen lächer­li­che Urteil, und es hät­te bloß eines durch­schnitt­li­chen mensch­li­chen Idio­ten bedurft, um die­se Dro­hung ernst­haft umzu­set­zen, doch war der zum Glück ent­we­der gera­de in der Knei­pe oder ein­fach zu unfä­hig für die gestell­te Aufgabe.
Wie unse­re Besu­cher uns erklär­ten, hat­ten sie der Erd­at­mo­sphä­re eine spe­zi­ell für die­sen Zweck ent­wi­ckel­te Art von Mikro­or­ga­nis­men bei­gefügt, die das Urteil bio­tech­no­lo­gisch umset­zen soll­ten, indem sie aus­schließ­lich die mensch­li­che Spe­zi­es befal­len und mit makel­lo­ser Effek­ti­vi­tät deren Unfrucht­bar­keit bewir­ken wür­den. Dann ver­lie­ßen sie unse­ren Pla­ne­ten wieder.
Natür­lich haben wir ver­sucht, uns mit ver­zwei­fel­ter Anstren­gung gegen die Fol­gen der extra­ter­res­tri­schen Inter­ven­ti­on zu weh­ren, wir tun es noch immer. Unse­re Wis­sen­schaft­ler waren sich bereits nach kur­zer Zeit sehr sicher, die ver­ant­wort­li­chen Mikro­or­ga­nis­men schnell ana­ly­sie­ren und unschäd­lich machen zu kön­nen, wie sie sich bereits bei allen ande­ren drän­gen­den Pro­ble­men der Mensch­heit zuvor stets schnell sicher gewe­sen waren, die­se unter Kon­trol­le brin­gen zu kön­nen. Die Stra­fe der außer­ir­di­schen Besu­cher hat ermög­licht, was zuvor nur blo­ße Uto­pie war. Zum ers­ten Mal in der Geschich­te der Mensch­heit ist zu beob­ach­ten, dass alle Staa­ten, alle Kon­ti­nen­te, alle Grup­pen und alle Frak­tio­nen fried­lich zusam­men­ar­bei­ten, denn es geht um nicht weni­ger als das ver­bin­den­de Pro­jekt, eine ret­ten­de Lösung zu fin­den, die der Mensch­heit das Über­le­ben ermög­li­chen soll. Je län­ger wir dar­an arbei­ten, des­to deut­li­cher wird jedoch auch, dass wir gegen den tech­no­lo­gi­schen Vor­sprung unse­rer Rich­ter ver­mut­lich kei­ne ernst­zu­neh­men­de Chan­ce haben wer­den. Die Zeit läuft uns davon. Seit sieb­zehn Jah­ren wur­de auf dem gesam­ten Pla­ne­ten kei­ne ein­zi­ge Schwan­ger­schaft mehr verzeichnet.
Wir for­der­ten von ihnen eine Form der Unter­stüt­zung, die unse­rer wür­dig sei, und ich fürch­te, genau das haben wir bekommen.

Aber ist es roman­tisch zu wer­ten, wenn Goeb­bels von einer Fahrt in bom­ben­zer­stör­te West­städ­te pathe­tisch lügt, er sel­ber, der doch den Betrof­fe­nen Mut ein­flö­ßen woll­te, fühl­te sich durch ihr uner­schüt­ter­li­ches Hel­den­tum »neu auf­ge­la­den«? Nein, hier wirkt bestimmt und allein die Gewöh­nung, den Men­schen zu einem tech­ni­schen Appa­rat zu erniedrigen.
Ich sage es des­halb mit Bestimmt­heit, weil in den andern tech­ni­schen Meta­phern des Pro­pa­gan­da­mi­nis­ters und des Goeb­bel­s­krei­ses der unmit­tel­ba­re Bezug auf das Maschi­nel­le ohne jede Erin­ne­rung an irgend­wel­che Kraft­strö­me herrscht. Wie­der und wie­der wer­den täti­ge Men­schen mit Moto­ren ver­gli­chen. So heißt es etwa im »Reich« von dem Ham­bur­ger Statt­hal­ter, er sei in sei­ner Arbeit wie »ein immer auf Hoch­tou­ren lau­fen­der Motor«. Viel stär­ker aber als solch ein Ver­gleich, der immer­hin einen Grenz­strich zieht zwi­schen dem Bild und dem damit ver­gli­che­nen Objekt, viel gra­vie­ren­der zeugt für die mecha­ni­sie­ren­de Grund­an­schau­ung ein Goeb­bels­satz wie die­ser: »Wir wer­den in abseh­ba­rer Zeit auf einer Rei­he von Gebie­ten wie­der zu vol­len Tou­ren auf­lau­fen.« Wir wer­den also nicht mehr mit Maschi­nen ver­gli­chen, son­dern wir sind Maschi­nen. Wir: das ist Goeb­bels, das ist die nazis­ti­sche Regie­rung, das ist die Gesamt­heit Hit­ler­deutsch­lands, die in schwe­rer Not, bei schreck­li­chem Kräf­te­ver­lust ermu­tigt wer­den soll; und sich sel­ber und all sei­ne Getreu­en ver­gleicht der sprach­ge­wal­ti­ge Pre­di­ger nicht etwa, nein, iden­ti­fi­ziert er mit Maschi­nen. Eine ent­geis­tig­te­re Denk­art als die sich hier ver­ra­ten­de ist unmöglich.
(Vic­tor Klem­pe­rer – LTI)

Jedes Mal, wenn sich ein Jahr sei­nem Ende ent­ge­gen­neigt, machen sich unzäh­li­ge Men­schen gut gemein­te Gedan­ken zum Ablauf des bald dar­auf anbre­chen­den Jah­res und nen­nen ihre Plä­ne, die dar­aus her­vor­ge­hen, gute Vor­sät­ze. Rau­cher wol­len Nicht­rau­cher wer­den, Sport­muf­fel zu Frei­zeit­ath­le­ten, Fau­len­zer zu Arbeits­tie­ren. Die­se guten Vor­sät­ze sind in der Regel noch vor Febru­ar wie­der vergessen.

Wenn es etwas gab, das sie in die­ser Zeit des Jah­res am meis­ten hass­te, dann waren es die guten Vor­sät­ze ande­rer Men­schen und deren auf­dring­li­che Art, die­se Vor­sät­ze jedem Inter­es­sier­ten und Des­in­ter­es­sier­ten glei­cher­ma­ßen unter die Nase zu rei­ben. Auch sie hat­te sich Gedan­ken zum Ablauf des kom­men­den Jah­res gemacht, war dabei aller­dings auf eine ande­re Idee gekom­men, die ihr wesent­lich sym­pa­thi­scher erschien. Sie hat­te sich vor­ge­nom­men, ab Neu­jahr täg­lich in einem klei­nen schwar­zen Büch­lein zu notie­ren, was ihr an jedem ein­zel­nen Tag Schö­nes wider­fah­ren wür­de. Es muss­te nichts Gro­ßes sein, nichts Über­wäl­ti­gen­des, ein­fach etwas Schö­nes, etwas Gutes, etwas Posi­ti­ves, das ihr den Tag und damit auch das Leben ein wenig auf­ge­hei­tert oder erhellt, das ihr viel­leicht sogar einen Blick auf die­ses so genann­te Glück ermög­licht hatte.

Das alles begann vor einem Jahr. Nun, drei­hun­dert­zwei­und­sech­zig Tage spä­ter, saß sie bei Nacht in ihrem Zim­mer und blät­ter­te durch das Notiz­buch, das sie mit ihren Erleb­nis­sen gefüt­tert hat­te, um sich so kurz vor Sil­ves­ter die ver­gan­ge­nen zwölf Mona­te noch ein­mal Tag für Tag durch den Kopf gehen zu las­sen, die ange­neh­men wie die bedrü­cken­den Zei­ten. Sie hat­te ein gutes Gefühl dabei, denn das letz­te Jahr war schnell ver­gan­gen, fast schon zu schnell, und wenn etwas schnell ver­geht, ja zu schnell gar, dann ist das in der Regel doch ein Zei­chen dafür, dass man eine gute Zeit ver­bracht hat­te. Die guten Zei­ten ver­ge­hen immer wie im Flug, das ist das Trau­ri­ge an ihnen und der Grund, wes­halb sie so sel­ten das Gewicht der schwe­ren Zei­ten auf­wie­gen kön­nen, die sich ihrer­seits wie Fuß­ket­ten an das Leben bin­den, sodass man sich fühlt, als wür­de man durch ein Moor waten und nicht vor­an­kom­men. Zwar waren in die­sem Jahr nicht alle ihre Wün­sche in Erfül­lung gegan­gen, aber wer konn­te das schon von sich behaupten.

Als sie anfing, die ers­ten Sei­ten durch­zu­blät­tern und dabei die täg­li­chen Ein­trä­ge zu stu­die­ren, muss­te sie schmun­zeln. Sie ging in die Küche, öff­ne­te sich eine Fla­sche Wein und wid­me­te sich der wei­te­ren Lek­tü­re. Was sie las, stimm­te sie zufrie­den. Es waren Klei­nig­kei­ten, aber es waren teils süße, teils herz­er­wär­men­de, teils völ­lig in Ver­ges­sen­heit gera­te­ne Gescheh­nis­se, die sie dort sah, und es waren Din­ge, die sie auch heu­te noch fröh­lich gemacht hät­ten, wür­den sie ihr erneut pas­sie­ren. Sie las die Ein­trä­ge des gesam­ten Janu­ars und dann die Noti­zen des fol­gen­den Febru­ars. Ihr fiel auf, dass sich eini­ge Erleb­nis­se bereits wie­der­hol­ten, doch das stör­te sie nicht wei­ter. Ganz im Gegen­teil, ent­wi­ckel­te sich beim Lesen eine gewis­se Span­nung, denn da Janu­ar und Febru­ar recht ruhig ver­lau­fen waren, fie­ber­te sie inner­lich dem ers­ten außer­ge­wöhn­li­chen, dem ers­ten auf­fäl­li­gen, dem ers­ten bedeu­ten­den Ein­trag ent­ge­gen, was nun wie­der­um nicht hieß, dass die bis­he­ri­gen Ein­trä­ge für sie unbe­deu­tend gewe­sen wären, nur waren es Bana­li­tä­ten, all­täg­li­che Gescheh­nis­se, die sicher­lich jedem zuteil­wur­den und sich jeder­zeit wie­der ereig­nen könn­ten, wenn sie ein­fach nur einen völ­lig nor­ma­len Tag ver­brin­gen oder durch die Fuß­gän­ger­zo­ne schlen­dern würde.

Sie setz­te ihre Hoff­nun­gen in den März, denn end­lich, ja end­lich muss­te doch etwas Auf­re­gen­des gesche­hen sein. Beim Lesen offen­bar­te sich ihr dann aller­dings das gewohn­te Bild, das Janu­ar und Febru­ar ihr bereits zur Genü­ge prä­sen­tiert hat­ten. Lang­sam wur­de sie unge­dul­dig. Viel­leicht ist es doch eine blö­de Idee gewe­sen, die­ses Büch­lein zu füh­ren, dach­te sie sich und blät­ter­te nun ganz zufäl­lig durch die Sei­ten, bis sie einen Tag im Juni auf­schlug, immer noch auf der Suche nach span­nen­den, irgend­wie berüh­ren­den Ereig­nis­sen. „Fünf Euro auf dem Weg zur Arbeit gefun­den“ las sie da und lach­te. Nein, das war nun wirk­lich weder span­nend noch berüh­rend. Der fol­gen­de Tag war dem­ge­gen­über schon etwas bes­ser, denn dort hat­te sie notiert: „Im Regen spa­zie­ren gegan­gen“. Sie lieb­te es, im Regen durch die Stra­ßen der Stadt spa­zie­ren zu gehen, inso­fern war dies nun für sie zwar ein irgend­wie berüh­ren­der, aber kein son­der­lich her­vor­ste­chen­der, kein außer­ge­wöhn­li­cher, kein befrie­di­gen­der Ein­trag. Sie blät­ter­te wei­ter­hin wahl­los im Juni her­um, las „Von einem Kol­le­gen ein Stück Kuchen bekom­men“ oder „Jeman­dem den Weg erklärt“, fand „Eine Frau hat mir lächelnd die Tür der Stra­ßen­bahn auf­ge­hal­ten“ und „Himm­lisch geschla­fen“, aber rein gar nichts, von dem sie sagen konn­te, es sei etwas Beson­de­res gewe­sen, das ihr ein Stück vom Glück dar­ge­bo­ten hät­te. Das müs­sen ziem­lich schlech­te Tage gewe­sen sein, dach­te sie und blät­ter­te wei­ter, doch was sie auf den Sei­ten der dar­auf­fol­gen­den Wochen lesen konn­te, kam ihr noch bana­ler, noch unwich­ti­ger, jeden­falls kei­nes­wegs erfül­lend oder ein­fach bloß gut vor, son­dern irgend­wie leer. Sie fühl­te sich wie jemand, der in der Lot­te­rie gewinnt und dann aber fest­stel­len muss, dass alle ande­ren eben­falls gewon­nen haben. Nun, dann sind es eben kei­ne schlech­ten Tage gewe­sen, schlech­te Wochen müs­sen es gewe­sen sein. Sie such­te wei­ter. Es waren kei­ne schlech­ten Tage gewe­sen, muss­te sie fest­stel­len, auch kei­ne schlech­ten Wochen, es waren die bes­ten Tage im gan­zen Monat gewe­sen, sogar in zwei Mona­ten, und der Rest des Jah­res war, von ein­zel­nen Aus­nah­men abge­se­hen, nicht viel besser. 

Konn­te das wirk­lich die Wahr­heit sein? Sie hat­te für jeden Tag des Jah­res jeweils nur das eine, das aller­bes­te Erleb­nis notiert, das ihr wider­fah­ren war, die bes­te Hand­lung, die sie voll­bracht, oder das schöns­te Gefühl, das sie an die­sem Tag emp­fun­den hat­te – und die­se Din­ge, die sie da lesen muss­te, die­se Bana­li­tä­ten, die­se Nich­tig­kei­ten, die­se lieb­lo­sen lee­ren Wor­te, die sie kaum zu lesen wag­te, die waren genau das, alles erschöpf­te sich in die­sen Belang­lo­sig­kei­ten? Die­se Ein­trä­ge vol­ler unbe­deu­ten­der All­täg­lich­kei­ten waren alles, was ihr Leben in die­sem einen Jahr aus­ge­macht hat­te? Das war das Bes­te, was die Welt ihr in die­sen Wochen und Mona­ten gebo­ten hat­te? Mehr war da nicht?

Was sie außer­dem beun­ru­hig­te, waren Ein­trä­ge wie der fol­gen­de: „Net­ter Kas­sie­rer hat mir zuge­zwin­kert“. Das gan­ze letz­te Jahr hat­te sie allein ver­bracht, genau wie auch das Jahr zuvor. Sie fand vie­le wei­te­re Ein­trä­ge, die Ähn­li­ches fest­ge­hal­ten hat­ten, ob es sich dabei nun um Kas­sie­rer, Jog­ger, U‑Bahn-Fahr­gäs­te oder irgend­wel­che Call­cen­ter-Mit­ar­bei­ter gehan­delt hat­te. Sie las die­se Ein­trä­ge und sah dar­in den Unter­ton, mit dem sie sie wahr­schein­lich auch geschrie­ben hat­te: Jemand fin­det mich gut, jemand mag mich, ich bin etwas wert. War sie so ver­zwei­felt nach mensch­li­cher Nähe, nach dem Gefühl, jeman­dem – irgend­je­man­dem – zu gefal­len? Ihre Zufrie­den­heit begann zu bröckeln.

Sie nann­te es ein Leben, was sie da geführt hat­te, nun aber frag­te sie sich, ob es denn wirk­lich mehr war als eine unbe­deu­ten­de Exis­tenz. Ver­zwei­felt such­te sie nach einem Ein­trag, der her­aus­stach, der beson­ders war, der es wert war, das Bes­te eines Tages, eines Monats, eines Jah­res zu sein. Sie fand abso­lut nichts, was sie über­zeugt, was sie beein­druckt oder was ihr das Gefühl gege­ben hät­te, ein gutes Jahr hin­ter sich zu haben. Sie ver­miss­te das gro­ße Glück.

Eines Tages blickt man in den Spie­gel und begreift, dass man nie­mals mehr sein wird als das, was man dort sieht. Mit die­ser Erkennt­nis kann man wei­ter­le­ben und sie akzep­tie­ren, man kann sich umbrin­gen, um allem zu ent­ge­hen, oder man blickt nie wie­der in einen Spiegel.

Es war weni­ge Tage vor Sil­ves­ter, als sie zum letz­ten Mal eine lee­re Sei­te in ihrem schwar­zen Büch­lein auf­schlug und mit zitt­ri­gen Fin­gern ledig­lich das Wort „Ende“ hineinschrieb.

Der Mensch will nur,
dass man versteht,
was in ihm drin
so vor sich geht.
Er will das freilich
ohne Mühe,
mag nicht reden,
sich erklären,
will nicht
aus dem Häus­chen kommen,
zu viel Welt
macht ihn beklommen;
öff­net keinem
sei­ne Pforte,
zäunt sich ein,
ver­liert kaum Worte;
und klopft doch mal einer an,
ver­schließt er sich,
so gut er kann,
dann brüllt er:
Kei­ner soll es wagen,
durch ein Fens­ter reinzuspähn! -
und jam­mert stets
tag­ein, tagaus:
Ach, wenn es da nur jemand‘ gäbe,
der versucht‘,
mich zu verstehn.

(2010)

Wenn vom Klas­sen­kampf die Rede ist, denkt man nie­mals an sei­ne ganz all­täg­li­chen For­men, an die rück­sichts­lo­se gegen­sei­ti­ge Ver­ächt­lich­ma­chung, an die Arro­ganz, an die erdrü­cken­den Prah­le­rei­en mit dem »Erfolg« der Kin­der, mit den Feri­en, mit den Autos oder ande­ren Pres­ti­ge­ob­jek­ten, an ver­let­zen­de Gleich­gül­tig­keit, an Belei­di­gun­gen usw.: Sozia­le Ver­ar­mung und Vor­ur­tei­le – letz­te­re sind die trau­rigs­ten aller sozia­len Lei­den­schaf­ten – wer­den in die­sen all­täg­li­chen Kämp­fen gebo­ren, in denen stets die Wür­de und die Selbst­ach­tung der betei­lig­ten Men­schen auf dem Spiel ste­hen. Das Leben ändern, das müß­te auch hei­ßen, die vie­len klei­nen Nich­tig­kei­ten zu ändern, die das Leben der Leu­te aus­ma­chen und die heu­te gänz­lich als Pri­vat­an­ge­le­gen­heit ange­se­hen und dem Geschwätz der Mora­lis­ten über­las­sen werden.
Pierre Bour­dieu – Poli­tik, Bil­dung und Spra­che, in: Die ver­bor­ge­nen Mecha­nis­men der Macht

Es ist so uner­hört lächer­lich, daß alle die Län­der, die von sich behaup­te­ten, sie sei­en die frei­es­ten Län­der, in Wahr­heit ihren Bewoh­nern die gerings­te Frei­heit gewäh­ren und sie das gan­ze Leben hin­durch unter Vor­mund­schaft hal­ten. Ver­däch­tig ist jedes Land, wo soviel von Frei­heit gere­det wird, die angeb­lich inner­halb sei­ner Gren­zen zu fin­den sei. Und wenn ich bei einer Ein­fahrt in den Hafen eines gro­ßen Lan­des eine Rie­sen­sta­tue der Frei­heit sehe, so braucht mir nie­mand zu erzäh­len, was hin­ter der Sta­tue los ist. Wo man so laut schrei­en muß: Wir sind ein Volk von frei­en Men­schen!, da will man nur die Tat­sa­che ver­de­cken, daß die Frei­heit vor die Hun­de gegan­gen ist oder daß sie von Hun­dert­tau­sen­den von Geset­zen, Ver­ord­nun­gen, Ver­fü­gun­gen, Anwei­sun­gen, Rege­lun­gen und Poli­zei­knüp­peln so abge­nagt wor­den ist, daß nur noch das Geschrei, das Fan­fa­ren­ge­schmet­ter und die Frei­heits­göt­tin­nen übrig­ge­blie­ben sind.
(B. Tra­ven – Das Totenschiff)

Was »Distink­ti­on« ist, was »Unter­schied« ist, läßt sich, so mei­ne Ansicht, immer nur rela­tiv sagen, in Bezie­hung zu ande­rem. Im Grun­de heißt »distin­gu­iert« sein: »nicht popu­lär« sein – und sonst nichts. Per Defi­ni­ti­on sind die unte­ren Klas­sen nicht distin­gu­iert; sobald sie etwas ihr eigen nen­nen, ver­liert es auch schon die­sen Cha­rak­ter. Die herr­schen­de Kul­tur zeich­net sich immer durch einen Abstand aus. Neh­men wir ein ein­fa­ches Bei­spiel: Ski­fah­ren war frü­her ein eher aris­to­kra­ti­sches Ver­gnü­gen. Kaum war es popu­lär gewor­den, kam Ski­fah­ren außer­halb der ein­ge­fah­re­nen Pis­ten auf. Kul­tur, das ist im Grun­de auch immer etwas »außer­halb der Pis­te«. Kaum bevöl­kern die brei­ten Mas­sen die Mee­res­strän­de, flieht die Bour­geoi­sie aufs Land. Das ist ein simp­ler Mecha­nis­mus, aber er ist wich­tig, will man ver­ste­hen, war­um der Begriff der »popu­lä­ren« oder Volks­kunst ein Wider­spruch in sich ist. Damit ist kei­nes­wegs behaup­tet, daß die unte­ren Klas­sen nichts hät­ten. Sie haben etwas und sie sind etwas, sie haben ihren Geschmack und ihre Vor­lie­ben – nur läßt sich das häu­fig nicht zum Aus­druck brin­gen, und wenn doch ein­mal, dann wird es sofort objek­tiv ent­wer­tet. Auf dem Bil­dungs­markt springt das ins Auge. Sobald die Ver­tre­ter der unte­ren Klas­sen dort ihre Spra­che anbie­ten, bekom­men sie schlech­te Noten; da fehlt ihnen die rich­ti­ge Aus­spra­che, die rich­ti­ge Syn­tax usw.
(Pierre Bour­dieu – Die fei­nen Unter­schie­de, in: Die ver­bor­ge­nen Mecha­nis­men der Macht)