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An dieser Stelle ist es nötig, etwas zur soziologischen Sicht des menschlichen Seins zu sagen. Kriminalität wird zum Beispiel als eine Folge der Armut gesehen. Doch dies erklärt nicht, warum die Mehrheit nicht kriminell wird. Daraus wiederum kann man aber nicht schlußfolgern, Armut hätte keinen Zusammenhang mit Kriminalität. Man kommt nicht umhin, einiges zu differenzieren. Wenn ein Hungriger stiehlt, handelt er nicht aus Habgier; und wenn er dabei, ohne es zu wollen, jemanden umbringt, ist es kein vorsätzlicher Mord. Andererseits gehören die Reichen und Mächtigen zu jenen in unserer Gesellschaft, die Kriege anzetteln, die Lebensgrundlage anderer Menschen zerstören, Natur und Menschen vergiften. Sie aber sitzen nicht in den Gefängnissen. Kriminalstatistiken verzeichnen nur deshalb mehr Arme als Reiche, weil solche Statistiken der Ideologie der Reichen und Mächtigen unterliegen und weil sie nicht alle Formen von Destruktivität aufführen.
(Arno Gruen – Der Wahnsinn der Normalität)

Sinnkrise. Ich komm in die Beratung, sagt stockend ein Klient, weil ich so komisch traurig bin die ganze Zeit, weil alles mich so sinnlos dünkt. – (Berichtigung: Dies sagt nicht ein Klient, sehr viele sagen es; ich wähle stellvertretend einen und nenn ihn Zemp und referiere lückenhaft.)
Wuchs gedrungen. Fleischige Gestalt. Gliedmaßen kurz. Gang eher schleppend. Gute, blaue Augen. Trevira-Hosen, bügelfrei, handgestrickte Weste. Zemp ist ein Volksschullehrer, Mitte vierzig, Familie, im Militär Major.
Weiß Ihre Frau um Ihren Zustand?
Neinnein.
Sie sagen zweimal nein, warum?
Ich will es ihr nicht sagen, es würde sie belasten.
Spürt sie’s nicht ohnehin?
Ich nehme mich zusammen.
Sie haben also das Gefühl, es würde Ihre Frau belasten, wenn Sie ihr anvertrauten, wie’s Ihnen wirklich geht?
Ja, schon. Ich … ich bin sonst eben nicht so schwach. Ich muß dagegen kämpfen, und Sie als Fachmann, dachte ich, Sie kennen doch die Waffen.
Sie hassen Ihre düstere Gemütsverfassung?
Sehr.
Und das Gefühl, daß alles sinnlos ist, scheint Ihnen ungehörig?
Es ist ein Virus, wie ein Virus. Ein Überfall.
Ich kürze ab: Natürlich besteht die erste Phase der »Behandlung« darin, dem Zemp zu zeigen, daß man auch als Major und Ehemann und Vater ein bißchen schwach sein darf; daß zweitens Probleme seiner Art rein waffentechnisch nicht zu lösen sind; daß drittens ein Symptom so wenig feindlich wie ein Leuchtturm ist, der auf Gefahrenzonen hinweist. – Und in der nächsten Phase, die ich »politisch« im weiten Wortsinn nennen möchte, geht es dann darum, zu erwägen, ob Sinnlosigkeitsgefühle und Betrübnis nicht allenfalls verstanden werden könnten als durchaus angemessene, Intaktheitssehnsucht offenbarende Reaktionsgebärden gegen eine Wirklichkeit, die über weite Strecken so beschaffen ist, daß einer, der sich in ihr nicht traurig fühlt, sein Trauerdefizit betrauern müßte.
(Markus Werner – Froschnacht)

Der Mensch muß Moral haben, der Staat kennt keine Moral. Er mordet, wenn er es für gut befindet, er stiehlt, wenn er es für gut befindet; er raubt die Kinder von den Müttern, wenn er es für gut befindet; er zerbricht die Ehen, wenn er es für gut befindet. Er tut, was er will. Für ihn gibt es keinen Gott im Himmel, an den zu glauben er den Menschen bei Leib- und Lebensstrafe zwingt, für ihn gibt es keine Gebote Gottes, die er den Kindern mit dem Knüppel einbleuen läßt. Er macht sich seine Gebote selbst, denn er ist der Allmächtige und der Allwissende und der Allgegenwärtige. Er macht sich die Gebote selbst, und wenn sie ihm eine Stunde darauf nicht mehr zusagen, übertritt er sie selbst. Keinen Richter hat er über sich, der ihn zur Rechenschaft zieht, und wenn der Mensch anfängt, mißtrauisch zu werden, dann fuchtelt er ihm mit der Flagge Rot-Weiß-Blau-Hurra-Hurra-Hurra vor den Augen herum, daß der Mensch ganz duselig wird, und er brüllt ihm ins Ohr: »Haus und Herd – Weib und Kind« und bläst ihm in die Nasenlöcher den Rauch: Blick auf deine ruhmreiche Vergangenheit. Und dann plappern die Menschen alles nach, weil der Allmächtige sie in ausdauernder Arbeit zu Maschinen und Automaten heruntergewürgt hat, die ihre Arme, Beine, Augen, Lippen, Herzen und Gehirnzellen genauso bewegen, wie es der allmächtige Götze Staat haben will. Das hat nicht einmal der allmächtige Gott zuwege gebracht, und der konnte doch auch etwas. Aber diesem Ungeheuer gegenüber ist er nur ein armer Stümper. Seine Menschen handelten ganz selbständig, sobald sie erst einmal ihre Arme und Beine bewegen konnten. Sie liefen ihm davon, achteten seine Gebote nicht, sündigten vergnügt wie toll und setzten ihn endlich ab. Bei dem neuen allmächtigen Gott haben sie es schwerer, weil er noch zu jung ist und weil sie noch nicht wagen, ihm auf die Füße zu treten und den Apfel vom Baume zu reißen.
(B. Traven – Das Totenschiff)

Als die ersten Signale aus dem All empfangen wurden, konnte noch niemand wissen, was auf uns zukommen würde. Die Streitkräfte der größten Nationen bereiteten erwartungsgemäß recht grimmige Verteidigungsmaßnahmen vor und waren überaus besorgt, wie sie das immer sind, wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht, weil es Aufgabe des Militärs ist, besorgt und möglichst grimmig zu sein. Die Massenmedien überschlugen sich mit ihrer Berichterstattung, sie wetteiferten geradezu um die wildesten Gerüchte und schürten globale Panik, wie sie es immer tun, weil sie das für ihre göttliche Berufung halten. Sekten und Weltuntergangsspinner sahen mit einem nicht zu verhehlenden Stolz das endgültige Ende heraufziehen, das sie dem Rest der Bevölkerung schon seit Ewigkeiten gepredigt hatten, ohne jemals von irgendjemandem wirklich ernst genommen worden zu sein. Politiker aller Länder begannen damit, trotz ihrer bisherigen Konfliktlinien auf einmal offen miteinander zu reden, weil sie nun einen neuen, gemeinsamen Feind identifizieren konnten, der ihnen womöglich die Macht über ihr Revier streitig zu machen drohte. Zusammenfassend muss man sagen, dass sich die Erde in ein kopfloses Tollhaus verwandelte, doch genau genommen kann diese Bezeichnung dem ganzen Vorgang nicht völlig gerecht werden, weil man der Wahrheit zuliebe ergänzen müsste, dass sie ein noch viel größeres Tollhaus wurde, als sie es normalerweise sowieso schon war.
Unsere Versuche, noch während ihres Anflugs auf die Erde irgendeine Art von Kontakt mit ihnen herzustellen, schlugen allesamt fehl, also blieb uns nichts weiter übrig, als nervös ihre Ankunft abzuwarten und das Beste zu hoffen. Je nach Menschenwesen, das man dazu befragt hätte, wäre die Vorstellung darüber, was dieses Beste denn überhaupt sei, sicherlich sehr unterschiedlich ausgefallen. Die einen erhofften sich von den Besuchern aus dem All einen gewaltigen kulturellen und technologischen Fortschritt, andere sahen es als Gelegenheit, ja als Herausforderung an, endlich ein paar Wesen abseits der gewohnten Fauna abzuknallen, was nach so vielen Jahren voll umfangreicher Praxiserfahrung langsam langweilig zu werden drohte, und wieder andere malten sich neue sexuelle Erfahrungen aus. Ob sie wohl auch auf die Erde gekommen wären, wenn sie diese Gedanken allesamt gekannt hätten?
Andererseits gibt es Idioten wirklich überall, also sicher auch unter extraterrestrischen Lebensformen, weswegen menschliche Idiotie für unsere Besucher keine allzu große Überraschung gewesen sein dürfte. Ob einer ein Idiot ist, hat dabei jedoch nichts damit zu tun, wie intelligent er ist oder eben nicht, denn oft genug stellen sich gerade die Intelligentesten als die größten Idioten heraus, weil sie es eigentlich besser wissen müssten. Wenn es eines gibt, das jede Kultur im Universum verbindet, dann ist es mit Sicherheit die Existenz von Idioten, und man müsste die Evolution wirklich einmal fragen, was sie sich dabei eigentlich gedacht hat. Wahrscheinlich gar nichts. Die Evolution ist auch ein Idiot. Gott habe den Menschen nach seinem eigenen Bilde erschaffen, heißt es dagegen in mancher Religion, doch wenn es unter den Menschen so viele Idioten gibt, was hieße das dann im Umkehrschluss für Gott? Er kann sich glücklich schätzen, dass es ihn nicht gibt.
Sie landeten jedenfalls in der Nähe von Shenyang, einer Stadt im Nordosten Chinas, ohne dass unsererseits besondere Begrüßungsmaßnahmen hätten vorbereitet werden können, weil uns vollkommen unbekannt war, wo sie Fuß auf diesen Planeten setzen würden. Bis heute wissen wir nicht, weshalb sie ausgerechnet dort gelandet sind. Vermutlich war dieser Platz so gut wie jeder andere, aber all die verschmähten Staaten waren sich nicht zu fein, sofort die böseste Gerüchte kursieren zu lassen, China habe schon Kontakt zu unseren Besuchern gehabt und stecke mit ihnen unter einer Decke, um die gesamte Menschheit endlich zu versklaven. Gewählte Staatschefs zeigten sich beleidigt wie ein kleines Kind, das empört feststellen muss, dass es von der Kindergärtnerin nicht ausreichend beachtet wird, wobei ausreichend mit exklusiv zu übersetzen ist. Wer hatte sie eigentlich gewählt? Mit Sicherheit Idioten.
Als sie landeten, geschah alles so, wie es immer geschieht, und war darum irgendwie richtig langweilig. Das Militär fuhr schweres Geschütz auf, um den unerwarteten Besuchern ohne jede Verzögerung unmissverständlich die Stärke der Erdbevölkerung zu demonstrieren, während sich die Staatsmänner gegenseitig bei dem Versuch übertrumpften, das eigene Land als kulturell und technologisch führend herauszustellen, was besonders peinlich aussah für jene, deren größte kulturelle Leistung es bis dahin gewesen war, im Internet bestimmte erigierte Körperteile zu präsentieren. Die Außerirdischen beeindruckte weder das eine noch das andere. Mir schien es, als seien sie den Wirbel um ihre Ankunft gewohnt, als sähen sie über all diesen Trubel gleichgültig, vielleicht auch amüsiert hinweg.
Ihr Raumschiff erschien uns auf den ersten Blick ziemlich unspektakulär und war weder besonders imposant noch auf irgendeine Art mysteriös, im Vergleich mit den Fantasiegebilden unzähliger Science-Fiction-Autoren kam es mir ganz und gar öde vor.
Die Kommunikation mit uns war für unsere neugewonnenen Gäste kein Problem, auch wenn sie uns nie verraten haben, wie sie diese Kenntnisse eigentlich erlangt hatten. Vielleicht hatten sie unsere Radio- und Fernsehübertragungen empfangen, bevor sie auf unseren Planeten kamen. Eine intelligente Lebensform, die menschliche Radio- und Fernsehübertragungen empfängt und dann unserem Planeten trotzdem noch einen Besuch abstatten möchte, ist entweder extrem tolerant und offenherzig oder ziemlich idiotisch. Die Menschheit machte sich, wohl zu ihrer eigenen Entlastung, darüber allerdings gar keine Gedanken oder wenn doch, dann nahm sie zumindest ersteres an.
Die Außerirdischen interessierten sich sehr für die Geschichte der dominanten Spezies auf diesem Planeten und wie es der Zufall ergab, waren wir das. Wir waren sogar so dominant, dass viele andere Lebensformen in einem mehr als devoten Gestus das Fortsetzen der eigenen Spezies mehr oder weniger freiwillig aufgaben, um uns noch dominanter werden zu lassen. Rückblickend muss man sagen, dass wir ihnen dafür wenigstens mal eine Grußkarte hätten schreiben können, doch wir Menschen sind schon seit Beginn unserer großen Erfolgsgeschichte sehr gut darin gewesen, moralische Grundlagen dafür zu erfinden, wenn diejenigen Lebewesen, die wir gut finden, jene Lebewesen töten, die wir nicht so gut finden. Uns selbst fanden wir schon immer verdammt gut. Unsere Besucher jedenfalls baten uns um den Zugriff auf unsere Archive, auf Technologie und auf das Know-how, das die Menschheit im Laufe ihrer Entwicklung angesammelt hatte. Sie sagten uns, dass sie für genau ein Jahr unserer Zeitrechnung auf der Erde bleiben würden, um ihre Expedition, wie sie es nannten, durchzuführen und uns danach wieder zu verlassen.
Das Militär zeigte sich zunächst skeptisch, weil Militär grundsätzlich jedem friedlichen Handeln skeptisch gegenübersteht, aber nachdem auch den aggressivsten Köpfen klargeworden war, dass wir technologisch hoffnungslos zurücklagen und eine militärische Auseinandersetzung nie würden gewinnen können, wurde der vollumfänglichen Kooperation schließlich zugestimmt.
Im Gegenzug forderten die Staaten der Erde von den Außerirdischen umfangreiche Entwicklungshilfe, die unserer Intelligenz und Stellung würdig sei. Sie haben es nicht so ausgedrückt, aber es wurde klar, dass sie es genau so meinten. Die mächtigen Staatsmänner sagten, sie würden es als Zeichen der Kooperation und der gegenseitigen Friedfertigkeit betrachten, wenn uns die Außerirdischen mit ihrem gewaltigen Wissensvorsprung unter die Arme greifen würden, doch unter all dem diplomatischen Gefasel lag die Drohung der nuklearen Zerstörung, zur Not eben inklusive des Risikos der eigenen Vernichtung, sollten die Außerirdischen ihr Wissen nicht freiwillig mit uns teilen wollen.
Zwölf Monate lang weilten die Außerirdischen anschließend auf der Erde, betrieben Forschung, stellten Fragen, lebten unter uns und untersuchten unsere Lebensweise. Sie lasen unsere Geschichtsbücher, erhielten Zugriff auf staatliche Archive, studierten unseren Alltag und die Art, wie wir uns gesellschaftlich zu organisieren gewohnt waren. Sie durchwühlten unseren Müll, was uns ein wenig beunruhigte, weil wir sehr viel davon herstellten und oft genug gerade solche Dinge in den Müll schmissen, von denen wir nicht einmal wollten, dass unser Nachbar darüber Bescheid wüsste. Manche unserer Medien machten sich über sie lustig und bezeichneten sie als intergalaktische Penner, weil sie so weit gereist waren, nur um dann unseren Müll zu durchsuchen. In dem zu wühlen, was andere mühsam gekauft und dann weggeschmissen hatten, das fanden wir nicht in Ordnung, weder im Fall terrestrischer noch im Fall außerterrestrischer Mülldiebe, aber bei letzteren machten wir eine Ausnahme, weil sie uns im Gegensatz zum Obdachlosen von der Straße nun einmal leider überlegen waren.
Sie durchwühlten jedoch nicht nur unseren Müll und im metaphorischen Sinn unsere Geschichte, sondern beobachteten auch sehr genau, wie wir Menschen miteinander umgingen und wie wir mit allem anderen haushielten, was dieser Planet uns zur Verfügung stellte. Es gab viele verschiedene Arten, die menschliche Geschichte zu betrachten, doch unterm Strich lief alles darauf hinaus, dass einfach lauter Menschen lauter andere Menschen umgebracht hatten oder, wenn gerade keine anderen Menschen zur Verfügung standen, dann eben die nächstbesten Lebewesen. Wir haben das schon immer für ein Zeichen von Intelligenz und Zivilisation gehalten, also gab es nichts, wofür wir uns hätten schämen müssen.
Nachdem sie diese zwölf Monate mit Forschung und Beobachtung verbracht hatten, erklärten sie uns, sie würden die Erde nun wieder verlassen, genau wie sie es uns angekündigt hatten. Die Staatsmänner aller Nationen zeigten sich angesichts dieser Nachricht sehr traurig, waren innerlich aber froh, diese überlegenen Konkurrenten endlich wieder loszuwerden und versäumten es auch nicht, mit Nachdruck auf die versprochene Unterstützung der Außerirdischen hinzuweisen. Wenn Staaten auf etwas hinweisen, dann machen sie das oft sehr subtil, beispielsweise mit Panzern, Bomben und großen Kriegsschiffen. Auf diesen Punkt also ähnlich subtil angesprochen, versicherten uns die Besucher ohne auch nur einen Moment des Zögerns, sie würden selbstverständlich zu ihrem Versprechen stehen. Sie baten uns lediglich um etwas mehr Geduld und um die Möglichkeit, zum Abschied vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen sprechen zu dürfen.
Es ließ sich kaum verhehlen, dass man ihnen alles Mögliche zugestanden hätte, wenn sie nur endlich wieder abgeflogen und unsere etablierten Machtstrukturen in Ruhe gelassen hätten, also wurde ihnen ihre Rede gewährt. Eine Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen hatte in der Regel auf die Weltpolitik ungefähr so viel Einfluss wie das betrunken von sich gegebene Stammtischgeschwätz in einer beliebigen Kneipe, nur war die Wahrscheinlichkeit um einiges größer, an einem Kneipentisch einen Ehrenmann vorzufinden. Mit großem Getöse feierte man den Tag des Abschieds, der wie ein Tag der Befreiung behandelt wurde, obwohl sie uns gegenüber nie als Besatzer aufgetreten waren. Reihum hielten die Regierungschefs der größten Länder ihre Ansprachen, in denen sie sich vor Lob und aufgesetzter Dankbarkeit geradezu überschlugen. Als letztes trat ein Vertreter der Besucher nach vorne ans Rednerpult.
Die Menschheit wurde wegen zahlreicher Verbrechen gegen das Leben zum Aussterben verurteilt. Wäre das empörte Gerede im Saal nicht so laut gewesen, man hätte das globale Unterkieferherunterklappen tatsächlich hören könne. Die Schwere des Verbrechens und das daraus hervorgehende scharfe Urteil, so erklärten sie uns, wurden deutlich bei Betrachtung der geschichtlichen Entwicklung unserer Spezies. Anstatt aus Verfehlungen zu lernen, und an Verfehlungen zeigte sich die menschliche Geschichte reich, waren über Generationen hinweg die Möglichkeiten verfeinert worden, den eigenen Eroberungsfeldzug gegen den Planeten und letztlich das gesamte Universum zu optimieren, offensichtlich ohne jedes Gefühl der Reue, ohne Skrupel und ohne Rücksicht auf menschliches oder nichtmenschliches Leben. Um eine Gefahr für andere Planeten und deren Lebensformen abzuwenden, habe man sich darauf geeinigt, präventiv einzugreifen. Wie um diesen Anklagepunkt sofort zu bestätigen, drohten einige Staaten mit der atomaren Antwort auf dieses in ihren Augen lächerliche Urteil, und es hätte bloß eines durchschnittlichen menschlichen Idioten bedurft, um diese Drohung ernsthaft umzusetzen, doch war der zum Glück entweder gerade in der Kneipe oder einfach zu unfähig für die gestellte Aufgabe.
Wie unsere Besucher uns erklärten, hatten sie der Erdatmosphäre eine speziell für diesen Zweck entwickelte Art von Mikroorganismen beigefügt, die das Urteil biotechnologisch umsetzen sollten, indem sie ausschließlich die menschliche Spezies befallen und mit makelloser Effektivität deren Unfruchtbarkeit bewirken würden. Dann verließen sie unseren Planeten wieder.
Natürlich haben wir versucht, uns mit verzweifelter Anstrengung gegen die Folgen der extraterrestrischen Intervention zu wehren, wir tun es noch immer. Unsere Wissenschaftler waren sich bereits nach kurzer Zeit sehr sicher, die verantwortlichen Mikroorganismen schnell analysieren und unschädlich machen zu können, wie sie sich bereits bei allen anderen drängenden Problemen der Menschheit zuvor stets schnell sicher gewesen waren, diese unter Kontrolle bringen zu können. Die Strafe der außerirdischen Besucher hat ermöglicht, was zuvor nur bloße Utopie war. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist zu beobachten, dass alle Staaten, alle Kontinente, alle Gruppen und alle Fraktionen friedlich zusammenarbeiten, denn es geht um nicht weniger als das verbindende Projekt, eine rettende Lösung zu finden, die der Menschheit das Überleben ermöglichen soll. Je länger wir daran arbeiten, desto deutlicher wird jedoch auch, dass wir gegen den technologischen Vorsprung unserer Richter vermutlich keine ernstzunehmende Chance haben werden. Die Zeit läuft uns davon. Seit siebzehn Jahren wurde auf dem gesamten Planeten keine einzige Schwangerschaft mehr verzeichnet.
Wir forderten von ihnen eine Form der Unterstützung, die unserer würdig sei, und ich fürchte, genau das haben wir bekommen.

Aber ist es romantisch zu werten, wenn Goebbels von einer Fahrt in bombenzerstörte Weststädte pathetisch lügt, er selber, der doch den Betroffenen Mut einflößen wollte, fühlte sich durch ihr unerschütterliches Heldentum »neu aufgeladen«? Nein, hier wirkt bestimmt und allein die Gewöhnung, den Menschen zu einem technischen Apparat zu erniedrigen.
Ich sage es deshalb mit Bestimmtheit, weil in den andern technischen Metaphern des Propagandaministers und des Goebbelskreises der unmittelbare Bezug auf das Maschinelle ohne jede Erinnerung an irgendwelche Kraftströme herrscht. Wieder und wieder werden tätige Menschen mit Motoren verglichen. So heißt es etwa im »Reich« von dem Hamburger Statthalter, er sei in seiner Arbeit wie »ein immer auf Hochtouren laufender Motor«. Viel stärker aber als solch ein Vergleich, der immerhin einen Grenzstrich zieht zwischen dem Bild und dem damit verglichenen Objekt, viel gravierender zeugt für die mechanisierende Grundanschauung ein Goebbelssatz wie dieser: »Wir werden in absehbarer Zeit auf einer Reihe von Gebieten wieder zu vollen Touren auflaufen.« Wir werden also nicht mehr mit Maschinen verglichen, sondern wir sind Maschinen. Wir: das ist Goebbels, das ist die nazistische Regierung, das ist die Gesamtheit Hitlerdeutschlands, die in schwerer Not, bei schrecklichem Kräfteverlust ermutigt werden soll; und sich selber und all seine Getreuen vergleicht der sprachgewaltige Prediger nicht etwa, nein, identifiziert er mit Maschinen. Eine entgeistigtere Denkart als die sich hier verratende ist unmöglich.
(Victor Klemperer – LTI)

Jedes Mal, wenn sich ein Jahr seinem Ende entgegenneigt, machen sich unzählige Menschen gut gemeinte Gedanken zum Ablauf des bald darauf anbrechenden Jahres und nennen ihre Pläne, die daraus hervorgehen, gute Vorsätze. Raucher wollen Nichtraucher werden, Sportmuffel zu Freizeitathleten, Faulenzer zu Arbeitstieren. Diese guten Vorsätze sind in der Regel noch vor Februar wieder vergessen.

Wenn es etwas gab, das sie in dieser Zeit des Jahres am meisten hasste, dann waren es die guten Vorsätze anderer Menschen und deren aufdringliche Art, diese Vorsätze jedem Interessierten und Desinteressierten gleichermaßen unter die Nase zu reiben. Auch sie hatte sich Gedanken zum Ablauf des kommenden Jahres gemacht, war dabei allerdings auf eine andere Idee gekommen, die ihr wesentlich sympathischer erschien. Sie hatte sich vorgenommen, ab Neujahr täglich in einem kleinen schwarzen Büchlein zu notieren, was ihr an jedem einzelnen Tag Schönes widerfahren würde. Es musste nichts Großes sein, nichts Überwältigendes, einfach etwas Schönes, etwas Gutes, etwas Positives, das ihr den Tag und damit auch das Leben ein wenig aufgeheitert oder erhellt, das ihr vielleicht sogar einen Blick auf dieses so genannte Glück ermöglicht hatte.

Das alles begann vor einem Jahr. Nun, dreihundertzweiundsechzig Tage später, saß sie bei Nacht in ihrem Zimmer und blätterte durch das Notizbuch, das sie mit ihren Erlebnissen gefüttert hatte, um sich so kurz vor Silvester die vergangenen zwölf Monate noch einmal Tag für Tag durch den Kopf gehen zu lassen, die angenehmen wie die bedrückenden Zeiten. Sie hatte ein gutes Gefühl dabei, denn das letzte Jahr war schnell vergangen, fast schon zu schnell, und wenn etwas schnell vergeht, ja zu schnell gar, dann ist das in der Regel doch ein Zeichen dafür, dass man eine gute Zeit verbracht hatte. Die guten Zeiten vergehen immer wie im Flug, das ist das Traurige an ihnen und der Grund, weshalb sie so selten das Gewicht der schweren Zeiten aufwiegen können, die sich ihrerseits wie Fußketten an das Leben binden, sodass man sich fühlt, als würde man durch ein Moor waten und nicht vorankommen. Zwar waren in diesem Jahr nicht alle ihre Wünsche in Erfüllung gegangen, aber wer konnte das schon von sich behaupten.

Als sie anfing, die ersten Seiten durchzublättern und dabei die täglichen Einträge zu studieren, musste sie schmunzeln. Sie ging in die Küche, öffnete sich eine Flasche Wein und widmete sich der weiteren Lektüre. Was sie las, stimmte sie zufrieden. Es waren Kleinigkeiten, aber es waren teils süße, teils herzerwärmende, teils völlig in Vergessenheit geratene Geschehnisse, die sie dort sah, und es waren Dinge, die sie auch heute noch fröhlich gemacht hätten, würden sie ihr erneut passieren. Sie las die Einträge des gesamten Januars und dann die Notizen des folgenden Februars. Ihr fiel auf, dass sich einige Erlebnisse bereits wiederholten, doch das störte sie nicht weiter. Ganz im Gegenteil, entwickelte sich beim Lesen eine gewisse Spannung, denn da Januar und Februar recht ruhig verlaufen waren, fieberte sie innerlich dem ersten außergewöhnlichen, dem ersten auffälligen, dem ersten bedeutenden Eintrag entgegen, was nun wiederum nicht hieß, dass die bisherigen Einträge für sie unbedeutend gewesen wären, nur waren es Banalitäten, alltägliche Geschehnisse, die sicherlich jedem zuteilwurden und sich jederzeit wieder ereignen könnten, wenn sie einfach nur einen völlig normalen Tag verbringen oder durch die Fußgängerzone schlendern würde.

Sie setzte ihre Hoffnungen in den März, denn endlich, ja endlich musste doch etwas Aufregendes geschehen sein. Beim Lesen offenbarte sich ihr dann allerdings das gewohnte Bild, das Januar und Februar ihr bereits zur Genüge präsentiert hatten. Langsam wurde sie ungeduldig. Vielleicht ist es doch eine blöde Idee gewesen, dieses Büchlein zu führen, dachte sie sich und blätterte nun ganz zufällig durch die Seiten, bis sie einen Tag im Juni aufschlug, immer noch auf der Suche nach spannenden, irgendwie berührenden Ereignissen. „Fünf Euro auf dem Weg zur Arbeit gefunden“ las sie da und lachte. Nein, das war nun wirklich weder spannend noch berührend. Der folgende Tag war demgegenüber schon etwas besser, denn dort hatte sie notiert: „Im Regen spazieren gegangen“. Sie liebte es, im Regen durch die Straßen der Stadt spazieren zu gehen, insofern war dies nun für sie zwar ein irgendwie berührender, aber kein sonderlich hervorstechender, kein außergewöhnlicher, kein befriedigender Eintrag. Sie blätterte weiterhin wahllos im Juni herum, las „Von einem Kollegen ein Stück Kuchen bekommen“ oder „Jemandem den Weg erklärt“, fand „Eine Frau hat mir lächelnd die Tür der Straßenbahn aufgehalten“ und „Himmlisch geschlafen“, aber rein gar nichts, von dem sie sagen konnte, es sei etwas Besonderes gewesen, das ihr ein Stück vom Glück dargeboten hätte. Das müssen ziemlich schlechte Tage gewesen sein, dachte sie und blätterte weiter, doch was sie auf den Seiten der darauffolgenden Wochen lesen konnte, kam ihr noch banaler, noch unwichtiger, jedenfalls keineswegs erfüllend oder einfach bloß gut vor, sondern irgendwie leer. Sie fühlte sich wie jemand, der in der Lotterie gewinnt und dann aber feststellen muss, dass alle anderen ebenfalls gewonnen haben. Nun, dann sind es eben keine schlechten Tage gewesen, schlechte Wochen müssen es gewesen sein. Sie suchte weiter. Es waren keine schlechten Tage gewesen, musste sie feststellen, auch keine schlechten Wochen, es waren die besten Tage im ganzen Monat gewesen, sogar in zwei Monaten, und der Rest des Jahres war, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, nicht viel besser.

Konnte das wirklich die Wahrheit sein? Sie hatte für jeden Tag des Jahres jeweils nur das eine, das allerbeste Erlebnis notiert, das ihr widerfahren war, die beste Handlung, die sie vollbracht, oder das schönste Gefühl, das sie an diesem Tag empfunden hatte – und diese Dinge, die sie da lesen musste, diese Banalitäten, diese Nichtigkeiten, diese lieblosen leeren Worte, die sie kaum zu lesen wagte, die waren genau das, alles erschöpfte sich in diesen Belanglosigkeiten? Diese Einträge voller unbedeutender Alltäglichkeiten waren alles, was ihr Leben in diesem einen Jahr ausgemacht hatte? Das war das Beste, was die Welt ihr in diesen Wochen und Monaten geboten hatte? Mehr war da nicht?

Was sie außerdem beunruhigte, waren Einträge wie der folgende: „Netter Kassierer hat mir zugezwinkert“. Das ganze letzte Jahr hatte sie allein verbracht, genau wie auch das Jahr zuvor. Sie fand viele weitere Einträge, die Ähnliches festgehalten hatten, ob es sich dabei nun um Kassierer, Jogger, U-Bahn-Fahrgäste oder irgendwelche Callcenter-Mitarbeiter gehandelt hatte. Sie las diese Einträge und sah darin den Unterton, mit dem sie sie wahrscheinlich auch geschrieben hatte: Jemand findet mich gut, jemand mag mich, ich bin etwas wert. War sie so verzweifelt nach menschlicher Nähe, nach dem Gefühl, jemandem – irgendjemandem – zu gefallen? Ihre Zufriedenheit begann zu bröckeln.

Sie nannte es ein Leben, was sie da geführt hatte, nun aber fragte sie sich, ob es denn wirklich mehr war als eine unbedeutende Existenz. Verzweifelt suchte sie nach einem Eintrag, der herausstach, der besonders war, der es wert war, das Beste eines Tages, eines Monats, eines Jahres zu sein. Sie fand absolut nichts, was sie überzeugt, was sie beeindruckt oder was ihr das Gefühl gegeben hätte, ein gutes Jahr hinter sich zu haben. Sie vermisste das große Glück.

Eines Tages blickt man in den Spiegel und begreift, dass man niemals mehr sein wird als das, was man dort sieht. Mit dieser Erkenntnis kann man weiterleben und sie akzeptieren, man kann sich umbringen, um allem zu entgehen, oder man blickt nie wieder in einen Spiegel.

Es war wenige Tage vor Silvester, als sie zum letzten Mal eine leere Seite in ihrem schwarzen Büchlein aufschlug und mit zittrigen Fingern lediglich das Wort „Ende“ hineinschrieb.

Der Mensch will nur,
dass man versteht,
was in ihm drin
so vor sich geht.
Er will das freilich
ohne Mühe,
mag nicht reden,
sich erklären,
will nicht
aus dem Häuschen kommen,
zu viel Welt
macht ihn beklommen;
öffnet keinem
seine Pforte,
zäunt sich ein,
verliert kaum Worte;
und klopft doch mal einer an,
verschließt er sich,
so gut er kann,
dann brüllt er:
Keiner soll es wagen,
durch ein Fenster reinzuspähn! –
und jammert stets
tagein, tagaus:
Ach, wenn es da nur jemand‘ gäbe,
der versucht‘,
mich zu verstehn.

(2010)

Wenn vom Klassenkampf die Rede ist, denkt man niemals an seine ganz alltäglichen Formen, an die rücksichtslose gegenseitige Verächtlichmachung, an die Arroganz, an die erdrückenden Prahlereien mit dem »Erfolg« der Kinder, mit den Ferien, mit den Autos oder anderen Prestigeobjekten, an verletzende Gleichgültigkeit, an Beleidigungen usw.: Soziale Verarmung und Vorurteile – letztere sind die traurigsten aller sozialen Leidenschaften – werden in diesen alltäglichen Kämpfen geboren, in denen stets die Würde und die Selbstachtung der beteiligten Menschen auf dem Spiel stehen. Das Leben ändern, das müßte auch heißen, die vielen kleinen Nichtigkeiten zu ändern, die das Leben der Leute ausmachen und die heute gänzlich als Privatangelegenheit angesehen und dem Geschwätz der Moralisten überlassen werden.
Pierre Bourdieu – Politik, Bildung und Sprache, in: Die verborgenen Mechanismen der Macht

Es ist so unerhört lächerlich, daß alle die Länder, die von sich behaupteten, sie seien die freiesten Länder, in Wahrheit ihren Bewohnern die geringste Freiheit gewähren und sie das ganze Leben hindurch unter Vormundschaft halten. Verdächtig ist jedes Land, wo soviel von Freiheit geredet wird, die angeblich innerhalb seiner Grenzen zu finden sei. Und wenn ich bei einer Einfahrt in den Hafen eines großen Landes eine Riesenstatue der Freiheit sehe, so braucht mir niemand zu erzählen, was hinter der Statue los ist. Wo man so laut schreien muß: Wir sind ein Volk von freien Menschen!, da will man nur die Tatsache verdecken, daß die Freiheit vor die Hunde gegangen ist oder daß sie von Hunderttausenden von Gesetzen, Verordnungen, Verfügungen, Anweisungen, Regelungen und Polizeiknüppeln so abgenagt worden ist, daß nur noch das Geschrei, das Fanfarengeschmetter und die Freiheitsgöttinnen übriggeblieben sind.
(B. Traven – Das Totenschiff)

Was »Distinktion« ist, was »Unterschied« ist, läßt sich, so meine Ansicht, immer nur relativ sagen, in Beziehung zu anderem. Im Grunde heißt »distinguiert« sein: »nicht populär« sein – und sonst nichts. Per Definition sind die unteren Klassen nicht distinguiert; sobald sie etwas ihr eigen nennen, verliert es auch schon diesen Charakter. Die herrschende Kultur zeichnet sich immer durch einen Abstand aus. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Skifahren war früher ein eher aristokratisches Vergnügen. Kaum war es populär geworden, kam Skifahren außerhalb der eingefahrenen Pisten auf. Kultur, das ist im Grunde auch immer etwas »außerhalb der Piste«. Kaum bevölkern die breiten Massen die Meeresstrände, flieht die Bourgeoisie aufs Land. Das ist ein simpler Mechanismus, aber er ist wichtig, will man verstehen, warum der Begriff der »populären« oder Volkskunst ein Widerspruch in sich ist. Damit ist keineswegs behauptet, daß die unteren Klassen nichts hätten. Sie haben etwas und sie sind etwas, sie haben ihren Geschmack und ihre Vorlieben – nur läßt sich das häufig nicht zum Ausdruck bringen, und wenn doch einmal, dann wird es sofort objektiv entwertet. Auf dem Bildungsmarkt springt das ins Auge. Sobald die Vertreter der unteren Klassen dort ihre Sprache anbieten, bekommen sie schlechte Noten; da fehlt ihnen die richtige Aussprache, die richtige Syntax usw.
(Pierre Bourdieu – Die feinen Unterschiede, in: Die verborgenen Mechanismen der Macht)