Gedanken & Soziologie
Die Soziologie wäre nicht eine Stunde Mühe wert, wenn sie ein für Experten reserviertes Wissen von Experten wäre. (Pierre Bourdieu)
Der andere Trick besteht darin, dem Partner ebenso heftige wie nebelhafte Vorwürfe zu machen. Wenn er dann wissen will, was Sie eigentlich meinen, können Sie die Falle mit dem zusätzlichen Hinweis hermetisch schließen: »Wenn du nicht der Mensch wärest, der du bist, müßtest du mich nicht erst noch fragen. Der Umstand, daß du nicht einmal weißt, wovon ich spreche, zeigt klar, welch‘ Geistes Kind du bist.« Und a propos Geist: Im Umgang mit sogenannten Geisteskranken wird diese Methode seit längster Zeit mit großem Erfolg angewendet. In den seltenen Fällen nämlich, in denen der Betreffende es wagt, klipp und klar darüber Auskunft zu verlangen, worin in der Sicht der anderen seine Verrücktheit denn bestehe, läßt sich diese Frage als weiterer Beweis für seine Geistesgestörtheit hinstellen: »Wenn du nicht verrückt wärest, wüßtest du, was wir meinen.« Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich – denn hinter einer Antwort dieser Art steht Genialität: Der Versuch, Klarheit zu schaffen, wird flugs ins Gegenteil umgedeutet. Der andere gilt also für verrückt, solange er die Beziehungsdefinition »Wir sind normal, du bist verrückt« stillschweigend hinnimmt, und für verrückt, wenn er sie in Frage stellt. Nach diesem erfolglosen Exkurs in die menschliche Umwelt kann er entweder sich in hilfloser Wut die Haare ausraufen, oder in Schweigen zurückfallen. Aber auch damit beweist er nur zusätzlich, wie verrückt er ist, und wie recht die anderen schon immer hatten. (…) In den Etablissements, die sich für die Behandlung solcher Zustände für kompetent halten, läßt sich diese Taktik mit Erfolg anwenden. Man stellt es dem sogenannten Patienten zum Beispiel frei, nach eigenem Ermessen zu entscheiden, ob er an den Gruppensitzungen teilnehmen will oder nicht. Lehnt er dankend ab, so wird er hilfreich-ernsthaft aufgefordert, seine Gründe anzugeben. Was er dann sagt, ist ziemlich gleichgültig, denn es ist auf jeden Fall eine Manifestation seines Widerstandes und daher krankhaft. Die einzige ihm offenstehende Alternative ist also die Teilnahme an der Gruppentherapie, doch darf er nicht anmerken lassen, daß ihm ja nichts anderes übrigbleibt, denn seine eigene Lage so zu sehen, bedeutete immer noch Widerstand und Einsichtslosigkeit. Er muß also »spontan« teilnehmen wollen, gibt aber gleichzeitig mit seiner Teilnahme zu, daß er krank ist und Therapie braucht. In großen Gesellschaftssystemen mit Irrenhauscharakter ist diese Methode unter dem respektlos-reaktionären Namen Gehirnwäsche bekannt.
(Paul Watzlawick – Anleitung zum Unglücklichsein)
Der Journalismus ist tatsächlich einer der Orte, an dem die politische Magie entsteht und bestätigt wird. Damit Magie entsteht (…), braucht es eine Menge sozialer Voraussetzungen: Zauberer, Assistenten, Publikum usf. Und auch die Welt der politischen Magie macht eine Reihe von Teilnehmern erforderlich, nicht nur Parlamente und Abgeordnete: Journalisten, Umfrageinstitute, Kommunikationsberater – auch Intellektuelle, oder genauer: Journalisten, die sich als Intellektuelle aufspielen.
Man spricht (…) über die Rolle der Journalisten im Golfkrieg. Man spricht aber nicht – oder zuwenig – über den Alltag, über das, was der Journalismus alltäglich macht, wenn er eigentlich nur funktioniert, um die Reden, die die Politiker füreinander halten, zu verstärken und ihnen einen Resonanzboden zu geben. Heute reden die Politiker nämlich eigentlich zu niemand anderem mehr als zu sich selbst. Sie reden, um nichts zu sagen, und innerhalb stundenlanger, nichtssagender Ausführungen fällt dann ein Halbsatz, der gezielt eingesetzt wird, damit er von den Journalisten verstanden, aufgenommen und als Spielball in das politische Spiel eingebracht wird. Das Ganze hat Ähnlichkeit mit einem Schachspiel, bei dem gewiefte Spieler ihre Strategien erproben. Und wie ein Schachspiel schottet sich das Machtspiel nach außen ab, wird hermetisch, Objekt »kennerischer« Kommentare von Insidern, gesellschaftlich belanglos. Die Politiker sprechen zueinander, sie sprechen nicht zur Gesellschaft. Sie geben sich den Anschein, zur Gesellschaft zu sprechen.
(Pierre Bourdieu – Politik und Medienmacht, in: Der Tote packt den Lebenden)
»Aoki war ein sehr guter Schüler, er hatte fast immer die beste Note. Ich ging auf eine private Jungenschule, und Aoki war ziemlich beliebt. Die Klasse schätzte ihn, und er war der Liebling der Lehrer. Aber ich konnte seine pragmatische Einstellung und seine intuitiv berechnende Art von Anfang an nicht ausstehen. Wenn man mich fragte, was mich genau an ihm störte, müßte ich passen. Ich wüßte kein Beispiel. Ich weiß nur, daß ich ihn durchschaute. Ich konnte diese Egozentrik und Überheblichkeit, die er ausstrahlte, instinktiv nicht ertragen. Wie bei jemandem, dessen Körpergeruch man physisch nicht erträgt. Aber Aoki war klug und verstand es, diesen Geruch geschickt zu verbergen. Die meisten meiner Klasse hielten ihn für gerecht, bescheiden und freundlich. Das zu hören empörte mich – doch ich sagte natürlich nichts.«
(…)
Im Gegensatz [zu mir] stand Aoki mit allem, was er tat, im Mittelpunkt – wie ein weißer Schwan auf einem dunklen See. Er war der Star der Klasse, der, auf den alle hörten. Er war klug, das mußte auch ich zugeben. Er war schnell. Er wußte im voraus, was der andere wollte oder dachte, und verstand es, dementsprechend zu reagieren. Alle bewunderten ihn. Aber ich war nicht beeindruckt. Mir war Aoki zu oberflächlich. Wenn er ein kluger Kopf war, machte es mir nichts, kein kluger Kopf zu sein. Er war scharfsinnig, aber er besaß keine Persönlichkeit. Er hatte nichts mitzuteilen. Wenn alle ihn bestätigten, war Aoki glücklich. Er war hingerissen von seinen eigenen Fähigkeiten. Er drehte sich immer nach dem Wind. Er hatte keine Substanz. Aber niemand erkannte das.
(…)
»Es sind nicht Menschen wie Aoki, vor denen ich Angst habe. Solche Menschen gibt es überall. Was das angeht, habe ich resigniert. Wenn ich ihnen begegne, versuche ich möglichst nichts mit ihnen zu tun zu haben. Ich gehe ihnen aus dem Weg. Das ist nicht besonders schwer. Ich erkenne sie sofort. Zugleich bewundere ich Leute wie Aoki aber auch. Nicht jeder besitzt die Fähigkeit, so lange stillzuhalten, bis die Gelegenheit sich ergibt, und sie dann sicher zu ergreifen; die Fähigkeit, sich geschickt der Gefühle anderer zu bemächtigen und sie gegen jemanden aufzuhetzen. Ich hasse diese Charakterzüge zwar so sehr, daß ich kotzen könnte, dennoch sind es Fähigkeiten. Das muß ich anerkennen.
Wovor ich aber wirklich Angst habe, sind Leute, die Typen wie Aoki alles blind glauben. Diese Leute, die selbst nichts zuwege bringen, nichts verstehen, die sich von den bequemen und leicht übernehmbaren Meinungen anderer leiten lassen und nur in Gruppen auftreten. Diese Leute, die nie auf die Idee kämen, daß sie vielleicht irgend etwas falsch machen könnten. Denen niemals auffällt, daß sie einen anderen sinnlos und brutal verletzen könnten. Sie übernehmen keine Verantwortung für das, was sie tun. Vor solchen Leuten habe ich wirklich Angst. Und wenn ich nachts träume, dann von ihnen. In Träumen ist nur das Schweigen. Die Leute in meinen Träumen haben keine Gesichter. Wie eisiges Wasser dringt das Schweigen überall ein.«
(Haruki Murakami – Das Schweigen)
Haruki Murakamis „Das Schweigen“ hat mich fasziniert. Aus verletztem Stolz macht darin Aoki, ein scheinbar umgänglicher, freundlicher, cleverer Schüler, mithilfe seiner Mitschüler, die der charmante Aoki um den Finger gewickelt hat, das Leben des Erzählers zur Hölle. Die Geschichte hat mich fasziniert, weil ich Menschen wie Aoki kenne, immer wieder treffe, im Offline-Leben wie auch im Internet, wo es teilweise noch viel einfacher ist, diese Fähigkeiten erfolgreich zum Einsatz zu bringen und sich darzustellen. Es hat mich gefesselt, weil es mir manchmal nicht viel anders geht als dem Erzähler, wenn ich Menschen treffe, bei denen ich recht schnell durchschaue, dass all ihre Bescheidenheit, Gerechtigkeit und Freundlichkeit bloß aufgesetzt sind, dass sich dahinter berechnende Egozentriker verstecken, Bestätigungssüchtige, die zur Stillung ihrer Sucht auch Schaden anderer Menschen in Kauf nehmen, manchmal sogar gezielt herbeiführen. Die es schaffen, so gut den netten, freundlichen, gerechten, herzlichen Menschen zu spielen, dass ihre Umwelt ihnen diese Maske größtenteils unhinterfragt abkauft und diesen Menschen bereitwillig alles glaubt, von der trügerischen Selbstinszenierung bis hin zu gezielten Lügen, um andere zu diskreditieren.
Auch ich muss zugeben, von dieser Fähigkeit auf eine sehr abstoßende Art beeindruckt zu sein. Menschen, die für ihren Lebensunterhalt lügen und betrügen, stützen sich auf diese Fähigkeit. Werbung und Marketing nutzen sie ebenfalls, genau wie Demagogen und Heiratsschwindler. Eine Fähigkeit, die ich in Anlehnung an die Vorstellung von „dunkler Magie“ als „dunkle Empathie“ bezeichnen möchte. Über Empathie als solche verfügen diese Menschen ohne Zweifel, denn sonst wären sie nicht so gut in dem, was sie tun, in ihrer täuschenden Selbstdarstellung und dem Knüpfen emotionaler Bindungen mit anderen Menschen. Aber es ist Empathie, die einzig dazu dient, die Gefühle anderer zum eigenen Nutzen zu manipulieren.
Genau wie dem Erzähler machen mir diese Menschen selbst keine Angst. Ich kann ihnen aus dem Weg gehen oder kann versuchen, ihre Maskierung in Frage zu stellen und ihr Bühnenbild zum Wackeln zu bringen. Aber auch ich habe Angst vor denen, die darauf hereinfallen, die sich emotional verzaubern und (ver)führen lassen, die solchen Menschen bereitwillig alles glauben, ihre Meinungen übernehmen und sich mitunter sogar instrumentalisieren lassen, ohne irgendetwas zu hinterfragen, womit sie großen Schaden anrichten können.
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