Featured
- Die kommenden Tage
- Die kommenden Tage (2)
- Das Märchen von der Leistungsgesellschaft
- Bildung bekämpft Armut?
- Habitus, Herkunft und Bildungserfolg
- Habitus und Komplizenschaft
- Habitus – Entstehung und Abgrenzung zum Konzept der sozialen Rolle
- Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital
- Bildungs-Entscheidungen als Habitus-Handlungen
- Bildung – mehr als nur Schulbildung
- Schule – eine kritische Funktionsbetrachtung
- Sozialer Raum und soziale Felder
- Weniger ist mehr
- Keiner trägt das Leben allein
- Individualisierte Schuld
- Zwischenmenschliche Effizienz
- Selbstvermarktung multipler Persönlichkeiten
- Soziale Medien als Eindringling
- Überzeugungsarbeit
- An die Lieblosen
- Arbeitgeberfilter
- Reflexion
- Menschen ändern sich
- Dunkle Empathie
- Störendes Hintergrundrauschen
- Macht das glücklich?
- Sei doch mal konstruktiv
Alle Einträge
Wir leben in turbulenten Zeiten. Der Kapitalismus, wie wir ihn heute kennen, findet sein Ende – auf die eine oder auf die andere Art. Anstatt die Krise aber als Bedrohung und das Scheitern des Kapitalismus als Untergang der Welt wahrzunehmen, sind vielmehr die Chancen zu erkennen, die Grund zur Freude liefern, wenn sie genutzt werden.
Wer mit den immer deutlicher auftretenden Zerfallsprozessen des Kapitalismus das Ausbrechen eines globalen Chaos herannahen sieht, artikuliert mit diesen Bedrohungsszenarien Ängste, die vor allem eines offenbaren: Die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und Anforderungen des bestehenden Wirtschaftssystems, dessen Sieg über die Sowjetunion aufgrund des daraus resultierenden Mangels an konkreten Systemalternativen bisweilen schon zur Mär vom Ende der Geschichte verleitet hat, haben sich bereits so sehr als Denkschemata in den Köpfen der Menschen festgesetzt, dass ein Wegfallen dieser Gesetzmäßigkeiten als Wegfall der Ordnung an sich begriffen wird, so als gäbe es keine anderen Möglichkeiten, das menschliche Miteinander zu organisieren, als jene, die zurzeit bestehen. Diese scheinbar alternativlosen gesellschaftlichen Strukturen, durch deren Selbstverständlichkeiten wir sozialisiert wurden und die daher in unsere Habitus, in unsere Handlungs- und Denkstrukturen Einzug gefunden haben, befinden sich nun in einer Krise, die nicht nur ökonomischer, sondern auch psychologischer Natur ist, denn die soziale Ordnung hat sich unserer bis in die Fantasie hinein bemächtigt, wo sie der Vorstellungskraft enge Grenzen setzt, die jenen des wirtschaftlichen Systems entsprechen. Eine grundlegende Änderung dieses Systems übersteigt selbst in dessen Krise noch die Grenzen des Vorstellbaren oder ist nur als Utopie denkbar, als etwas, dem per se keine (zeitnahe) Realisierungschance zugesprochen wird. Die Gedanken, habituell derart geprägt und folglich eingeschränkt, wirken somit als Komplizen des derzeitigen Systems fort und so muss die Krise der bestehenden Ordnung wie eine Krise der Ordnung an sich empfunden werden, der Zerfall des Kapitalismus wie der Zerfall jeglicher Gesellschaft.
Tatsächlich aber ist die derzeitige Krise eine Chance. Wer trotz aller Fakten noch unbeirrt darauf baut, es möge alles so bleiben, wie es ist, der möchte eine Gesellschaftsordnung am Leben erhalten, in der ein immer kleinerer Teil auf Kosten der großen Mehrheit lebt. Die sich ausbreitende Krise liefert die Möglichkeit, diesen Zustand zu ändern, im Kleinen wie im Großen. Genau dieses Anliegen vertreten die wachsenden weltweiten Proteste.
Nicht der Zusammenbruch stellt die Bedrohung dar, sondern jeder zusätzliche Tag, den das bestehende System künstlich am Leben erhalten wird – zu horrenden ökonomischen, ökologischen und sozialen Kosten. Wenn alles ungehemmt weiterläuft wie bisher, werden wir in naher Zukunft unter anderem Folgendes erleben:
- weitgehenden Abbau des Sozialstaats
der bereits vor Jahren eingesetzt hat und sich ständig verschärft, man schaue neben Deutschland nur auf die drakonischen Sparmaßnahmen in Griechenland, das jüngst verabschiedete Sparpaket Italiens, die drastischen Sparbemühungen in Frankreich, Großbritannien, Spanien und Portugal. - erstarkenden Nationalismus
der bereits jetzt schon zu beobachten ist, hierzulande am offensichtlichsten in Form der unverhohlenen und auch von politischer Seite – im Sinne nationaler Interessen – befeuerten Hetze gegen den vermeintlichen Krisenverursacher Griechenland, für dessen angebliche Faulheit und Inkompetenz man nicht länger Zahlmeister sein wolle, genauso wenig wie für andere Schuldenländer, während im Ausland teilweise Deutschland als Verursacher der Krise ausgemacht wird und entsprechend verhasst ist; der zudem durch die nationalen Wirtschaftsinteressen vorangetrieben wird, die allen voran Deutschland, aber auch Frankreich mit der Durchsetzung der eigenen Vorstellung von Krisenbewältigung und Haushaltspolitik auf Kosten dritter Länder verfolgt. - zunehmende Verarmung und Prekarisierung
die schon seit einiger Zeit zu verzeichnen ist, man führe sich bloß einmal Arbeitslosenzahlen wie zum Beispiel die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien (~45 %) und Italien (~30 %) oder Statistiken der Einkommens- und Vermögensverteilung (erstere hier als interaktive Grafik für die USA), der Obdachlosigkeit, der Schuldenbelastung sowie der Armut oder des Armutsrisikos zu Gemüte, die allesamt anwachsende soziale Missstände offenbaren. - grassierenden Sozialdarwinismus
der bereits heute vorzufinden ist, beispielsweise in Form der Diskriminierung von Arbeitslosen und Migranten, die – auch von politischer Seite – teilweise subtil, teilweise ganz offen als faul und dumm, als Parasiten oder als unfinanzierbare Last des Wirtschaftsstandorts diffamiert werden; der sich zudem hinter der breiten Akzeptanz von in den letzten Jahren wieder erstarkenden Geisteshaltungen wie „Nur wer arbeitet, soll auch essen“ mehr schlecht als recht verbirgt. - zunehmende Entsolidarisierung
die bereits in diesen Tagen exemplarisch als stetige Privatisierung, als einseitige Gebührenerhöhungen und Sparmaßnahmen zu Lasten unterer Schichten, als Abschottung der Wohlhabenden in Gated Communities und als das Ausspielen von Bevölkerungsteilen gegen andere Gruppen der Bevölkerung auszumachen ist, so zum Beispiel Geringverdiener gegen Arbeitslose oder „richtige Deutsche“ gegen Migranten. - Personalisierung der Kritik
die als aggressive Sündenbocksuche bereits heute deutlich zu vernehmen ist, wenn beispielsweise gezielt Banker und Spekulanten als Blutsauger oder Fremdkörper bezeichnet und teilweise sogar bedroht werden. - Entdemokratisierung
die momentan schon sehr eindringlich anhand von Griechenland und Italien zu beobachten ist, wo nun Technokraten im Sinne einer rigiden Sparpolitik die Übergangsregierungen leiten sollen, das jeweilige Land also de facto gar nicht mehr regiert, sondern bloß noch zur Abwicklung gemanaged werden wird; die außerdem auf europäischer Ebene klar zu verzeichnen ist, wo sich Entscheidungsprozesse unter Ausschluss europäischer Institutionen, die ihrerseits bereits unter Demokratiedefiziten leiden, mehr und mehr auf die deutsch-französische Doppelspitze konzentrieren; die zuletzt jedoch am deutlichsten an den offen demokratiefeindlichen Reaktionen auf die angekündigte Volksabstimmung in Griechenland abzulesen war. - Radikalisierung des Protests und der Protestbekämpfung
für die die Straßenschlachten in Athen, Rom und in den USA, aber auch die Riots in London ein Vorgeschmack waren.
All dies sind keine düsteren Zukunftsvisionen, sondern ausnahmslos Prozesse, die bereits eingesetzt haben und sich mit Zuspitzung der Krise proportional verschärfen werden, sofern ihnen nicht entgegengewirkt wird. Es ist der ganz normale Wahn, den die bestehende Krise zum Vorschein bringt.
Die globalen Proteste wiederum, die zurzeit stattfinden und immer mehr Zulauf erfahren, sind in ihrem Kern nicht unbedingt primär als Forderung zur Abschaffung des Kapitalismus zu begreifen – dies gelingt ihm aus eigener Kraft, wie immer offensichtlicher wird. Die Frage aber, die sich in der Krise und mit dem Zerfall der bestehenden Wirtschaftsordnung immer dringender stellt, lautet nun: In welche Richtung soll es weitergehen?
Folglich handelt es sich bei den Protesten – allen voran bei jenen der Indignados oder der Occupy-Bewegung sowie ihr verwandter Protestformen – um die Artikulation des Standpunkts, dass man sich dem Geschehen nicht in bestem Fatalismus hingeben möchte (der oft genug als Optimismus verkleidet wird), sondern stattdessen aktiv am Aufbau einer gerechteren Gesellschaft teilnehmen möchte oder diese zumindest einfordert. Frank Schirrmacher, dem man als Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung keine allzu große Linkslastigkeit vorwerfen oder zugutehalten kann, hat erst kürzlich den überaus befreienden Gedanken geäußert, dass wir uns zurzeit in einer sehr komfortablen Position befinden: Immer hat es geheißen, wir können uns dies nicht leisten oder jenes, weil das dem Wirtschaftsstandort schadet, weil das nicht finanzierbar ist, weil das in diesem Wirtschaftssystem nicht funktioniert und so weiter. Nun aber sind wir an einem Punkt, an dem offensichtlich wird, dass das Wirtschaftssystem an sich nicht funktioniert. Das heißt, wir können zum ersten Mal seit langer Zeit ungehemmt darüber nachdenken, wie wir gerne leben würden, ohne uns um die ökonomischen „Sachzwänge“ des Wirtschaftssystems scheren zu müssen, weil letzteres in seiner gegenwärtigen Form sowieso nicht funktioniert. Die Krise als Chance.
Wie eine andere Gesellschaft aussehen könnte, zeigt im Kleinen, quasi als Sozialexperiment, die Occupy-Bewegung: Menschen, denen von Politik und Wirtschaft immer wieder weisgemacht wird, sie seien auf sich allein gestellt im Kampf aller gegen alle, jeder sei nur für sich selbst verantwortlich und Solidarität ein nicht finanzierbarer Luxus, leben in Form dieser Bewegung das Gegenteil vor, helfen sich gegenseitig, versorgen sich gegenseitig, unterstützen sich gegenseitig. Sie mögen keine einheitlichen Ziele formulieren, keine ausgearbeiteten Konzepte und Patentlösungen anbieten, die einzufordern sowieso bloß illusorisch ist, doch es eint sie ein Unbehagen gegenüber den herrschenden Verhältnissen; sie lehnen ab, was die derzeitige Gesellschaft ihnen nahe- oder auferlegt, sie sagen zum Bestehenden: Fuck this shit! Die Occupy-Bewegung wagt den Versuch einer Gegenkultur und zeigt, dass ein anderes Leben möglich ist, eine andere Kultur mit anderen Werten, Prioritäten und Verhältnissen.
Jener Aspekt der gegenwärtigen Bewegung ist es folglich auch, der für die bestehende Ordnung die größte Zumutung darstellt – aus deren Sichtweise gesprochen. Während fragmentierte Proteste und Demonstrationen schon immer vorzufinden waren und entsprechend marginalisiert werden konnten, verfügt das Etablieren einer konstruktiven Gegenkultur, die weltweit große mediale Aufmerksamkeit erfährt und die sich international vernetzt als auch rasch ausgebreitet hat, über eine gänzlich andere Qualität, weil deren zugrundeliegende Idee das Potential besitzt, mehr und mehr Menschen zum Überdenken des Selbstverständlichen bewegen zu können, indem sie konkrete Alternativen zum Bestehenden aufzeigt, wenn auch bloß als soziales Experiment. Buckminster Fuller hat es wie folgt ausgedrückt: »You never change things by fighting the existing reality. To change something, build a new model that makes the existing model obsolete.«
Letztlich gilt es also, die eigene Angst vor dem Kollaps, die eigene Ignoranz, die eigene Apathie und Ohnmacht angesichts scheinbar übermächtiger Strukturen zu überwinden, um aus der Krise konstruktive Kraft zu schöpfen. Kraft für eine bessere, gerechtere, glücklichere Gesellschaft, in der wir gerne leben möchten. Niemand sollte darauf vertrauen, von der Politik Lösungen zu erhalten. Die Politik hat keine Lösungen und sie stellt die falschen Fragen. Es liegt an jedem einzelnen von uns, wie es weitergehen wird.
Update vom 15.05.2012:
Die kommenden Tage (Teil 2) – eine Bestandsaufnahme sechs Monate nach Veröffentlichung dieses Artikels.
Die Zeit bis zum Schuljahres-Ende vergeht. Ich bilde mir ein, ich leiste in dieser Zeit etwas. Aber mit Leistung kann einer dies und der andere das meinen. Ich bin der Meinung, ich leiste etwas, was die Lehrer für Leistung halten. Für meinen Vater sind Leistungen die Arbeiten, die ich im Haus und auf den Feldern verrichte (…) Für die Dorfburschen besteht meine Leistung in der Kumpelei mit ihnen. Für sie bin ich in jener Zeit wenig leistungsfähig. (…) Es gab nie eine Zeit, in der ich gern in die Schule ging. Ich habe Mustermenschen stets mit etwas Skepsis bestaunt, zum Beispiel diesen Noatnick, der zwei Schulklassen übersprang, und von dem behauptet wird, er habe zwei Lebensjahre eingespart. Ich weiß nicht, ob der liebe Gott bei der Erschaffung des Menschen an die Schule dachte, aber dieser Noatnick ist, als ob ihn Gott bearbeitet hätte, damit er in die Schule passt. Ich hingegen bin neugierig auf alles, was sich außerhalb der Schule zuträgt, aber das trägt mir keine hochen Zensuren ein.
(Erwin Strittmatter – Der Laden, Band 2)
Die [gesellschaftlich] gleichermaßen erfahrbaren Formen struktureller und symbolischer Gewalt werden für die Deklassierten und Dequalifizierten umso leidvoller und entwaffnender, als sie unter den Vorzeichen und Verheißungen einer an individueller Selbstverwirklichung und -behauptung orientierten ‚Gesellschaft der Individuen‘ die Schuld für ihr Versagen zwangsläufig bei sich selbst suchen und dann wohl auch entdecken werden müssen. Symbolische Gewalt als die subtilste Form der Herrschaft beruht nun einmal auf einem Mechanismus, bei dem die Herrschaftsunterworfenen nicht umhin zu kommen scheinen, anzuerkennen, dass alles mit rechten Dingen zugeht und jeder nach den ihm gegebenen Möglichkeiten und Grenzen seines eigenen Glückes (oder Unglückes) Schmied ist.
(Franz Schultheis – Reproduktion in der Krise: Fallstudien zur symbolischen Gewalt; in: Barbara Friebertshäuser, Markus Rieger-Ladich & Lothar Wigger – Reflexive Erziehungswissenschaft)
Neueste Kommentare